FRITHJOF VOSS, 1936 – 2004
Für jeden kommt einmal die Zeit der Selbstständigkeit, dann gründet er eine Ich-AG. Nur Professoren traut das keiner zu. Das Professorentum, denkt man, ist eine Lebensform, die in freier Wildbahn gar keine Chance hat. Das ist ein Irrtum. Frithjof Voss war Geographieprofessor. Wenn Nichtgeographen ihn mit diesem Blick bedachten, als sei er ganz und gar aus Elfenbein – und das taten sie öfter -, hat ihn das sehr geärgert. Auch dass der Nichtgeograph denkt, ein Geograph sei jemand, der weiß, wie hoch der Kilimandscharo ist. Ein Geograph ist noch viel, viel mehr, wusste Frithjof Voss.
Im Grunde braucht jeder einen Geographen, sogar der Berliner Friseurladen an der Ecke und der letzte Bauer in China. Denn wenn die Heuschreckenschwärme kommen, hält der ihnen einfach sein Frithjof-Voss-Antiheuschrecken-Gitter entgegen. Wenn die Heuschreckenvölker der Erde ihren Hauptfeind nennen könnten, sie riefen: Frithjof Voss. Und welche Vorteile hat erst die Verkehrsbeobachtung aus der Luft mit Thermal-Infrarottechnik. Von wegen Kilimandscharo!
Aber noch war Frithjof Voss Professor an der Technischen Universität. An der Universität beweisen meist nur Professoren anderen Professoren etwas, und zwischendurch beantragen sie Forschungsgelder. Seit 1981 hatte Frithjof Voss seinen Lehrstuhl und war, was man in der Fachsprache eine » internationale Kapazität« nennt, mit vielen Preisen bedacht. Die Politik hat meist keinen besonders großen Respekt vor Kapazitäten, schon weil sie sie gar nicht erkennt. Die Politik sah nur, dass es im wiedervereinigten Berlin plötzlich vier Universitäten gab, die jungen Menschen beibrachten, wie hoch der Kilimandscharo ist. Müssen das vier sein? Drei reichen auch, beschloss Berlin und hatte eine Idee: Wenn der Voss in Rente geht, schließen wir sein Institut. Was die Stadt nicht wusste: Frithjof Voss konnte gar nicht in Rente gehen. Es gibt Menschen, die sind strukturell rentenuntauglich.
Unsere Sprache ist eine große Täuscherin. Sie sagt zum Beispiel: Der Mensch hat einen Beruf. Also kann er ihn auch ablegen und ist immer noch Mensch. Aber dies ist der Irrtum. Frithjof Voss lebte, insofern er Geograph war. Und insofern er lebte, war er Geograph. Also hatte er nur eine Möglichkeit. 2001 wurde der Geographieprofessor Frithjof Voss fünfundsechzig Jahre alt. Mit sechsundsechzig machte er sich selbst-ständig und gründete sein ganz privates Geographisches Institut in Berlin.
Natürlich bekam er nun keine Forschungsgelder mehr, aber der Neuunternehmer Voss dachte, was nur sehr wenige Professoren in einer solchen Situation denken: Endlich! – Er hatte sich ohnehin schon abgewöhnt, solche Gelder zu beantragen. Denn nach vier Monaten bekam er nie das Geld, sondern nur ein Aktenzeichen. Die Forschungsgeldantrags- bearbeitung gehört eben nicht zur Forschung, sondern zur Bürokratie. Das sind zwei zu verschiedene Planetensysteme, wusste der Professor. Aber nun war er frei. Freier Flug oder freier Fall, es würde sich zeigen
Den Aufenthalt in großen Höhen war er gewohnt, den Pilotenschein hatte er auch. Von weit oben war er zum Hauptfeind der Heuschrecken geworden. Es kam darauf an, eher in der Luft zu sein als sie. Denn wenn die Heuschrecken erst fliegen, hält sie keiner auf. Aber dass sie als Larven nur bestimmte Gräser fressen, ist ihre Schwäche. Also kartographierte der Flieger Voss anhand der Gräser ihre Ursprungsgebiete. Die ließen sich nun gezielt besprühen. Für den chinesischen und afrikanischen Bauern aber erfand er das Heuschreckengitter. Es funktioniert mit Solarzellen und kehrt die Fresslogik um. Nicht die Heuschrecke frisst nun das Feld des Bauern, sondern die Hühner des Bauern fressen solarzellengegrillte Heuschrecken.
Fällt die Herstellung gegrillter Heuschrecken wirklich ins Berufsbild eines Geographen? Voss war davon überzeugt. Kreativität ist von Natur aus interdisziplinär. Er hat ja auch eine neue Autoscheibenwischer-Sprühtechnik erfunden, aber bislang beharrt die Autoindustrie auf ihrer eigenen.
Die Berliner Miniermotte weiß das noch nicht, aber sie hat einen neuen Hauptfeind. Voss. Natürlich ist es lobenswert, wenn ganz Berlin im Herbst Kastanienlaub sammelt und in Säcke steckt zur Minimierung der Miniermotte. Aber so richtig wissenschaftlich ist es nicht. Also erfand Frithjof Voss das batteriebetriebene Antiminiermotten- Gitter. Einfach in die Kastanie hängen, fertig. Er hatte sogar schon eine Firma für die Serienfertigung gefunden.
Voss gründete eine Frithjof-Voss-Stiftung für Geographie aus seinem Privatvermögen, schon weil man junge hoffnungsvolle Geographen nicht dem Forschungsgeldbeantragungswesen überlassen darf. Das Fernsehen begann Filme über ihn zu drehen, Alexander Kluge, der ungewöhnliche Professor, lud den anders ungewöhnlichen Professor zum Gespräch, da musste Frithjof Voss kurz zu einem großen Schädlingsbekämpfungskongress nach Peking. In das Land, wo seine Gitter längst zum Antiheuschrecken-Alltag gehören. Am Abend seiner Rückkehr rief er seine Lebensgefährtin an: Alles in Ordnung, morgen arbeiten wir weiter. Voss war nicht krank, er hätte gar nicht gewusst, was ein Kranker den ganzen Tag macht. Die Planungen für sein Institut und die Mitarbeiter um-
fassten die nächsten zwanzig Jahre. So lange würde er noch leben. Also arbeiten.
Am Morgen nach dem Zwölfstundenflug von Peking nach Berlin war Frithjof Voss tot.
von Kerstin Decker, erschienen in: Der Tagesspiegel vom 30.07.2004 bzw. in David Ensikat (Hrsg.): Was bleibt – Nachrufe, 2005, S.176-179