Seit ihrer Entstehung trugen historische Schulatlanten entscheidend dazu bei, Geschichtsbilder zu prägen, und waren dabei gleichzeitig selbst Ausdruck sich wandelnder geschichtlicher Auffassungen. Nach Gründung des Deutschen Reiches erhöhte sich die Verbreitung dieser kartographischen Lehrwerke in Deutschland beträchtlich, und ihre Interpretationsangebote von Geschichte wurden seitdem im Unterricht verstärkt genutzt. Dadurch beeinflussten sie über Generationen hinweg die raumbezogene historische Vorstellung der Deutschen von der gesamten Welt und ihrem eigenen Land.
Ausgehend von diesen Überlegungen wurden 58 deutsche Schulgeschichtsatlanten verschiedener Schulebenen mit neuzeitlichem Kartenteil, bezogen auf Konzeption, thematische Schwerpunktsetzung und Kartengestaltung, vergleichend in ihrer zeitlichen Entwicklung von 1871 bis 1990 untersucht. Aufgrund der hohen Zahl der untersuchten Werke und ihrer Auflagen war eine Beschränkung des Vergleichs auf Karten zur jeweils neuesten deutschen Geschichte notwendig. Als Rückgrat der Untersuchung diente der bekannte und bis heute verlegte Putzger-Atlas, der erstmals 1877 erschien. Die Analyse der in den Atlanten enthaltenen Karten machte es möglich, das in den verschiedenen Zeiten vorherrschende nationale Denken in räumlichen Kategorien zu ermitteln. Zwar blieben Inhalt und Gestaltung der Schulgeschichtsatlanten in erster Linie ein Produkt von Autoren, Herausgebern und Verlagen, die ihre Arbeit innerhalb eines selbst abgesteckten Spielraums verantworten mussten. Aber indem der Staat über Zulassung oder Nichtzulassung eines Werkes entschied, nahm er immer zumindest indirekten Einfluss auf die konzeptionelle und gestalterische Arbeit.
Atlanten und Auflagen
In fast allen untersuchten Zeitabschnitten existierten miteinander konkurrierende Ausgaben von Schulgeschichtsatlanten, die aus unterschiedlichen Verlagshäusern stammten. Lediglich während der Besatzungszeit und in der DDR verhinderten behördliche Vorgaben den freien Wettbewerb. Obwohl in jedem Zeitraum neue Werke publiziert wurden, behielt der konstant in immer neuen Auflagen erscheinende Putzger-Atlas bis in die Nachkriegszeit hinein seine marktbeherrschende Stellung, die er seit Anfang des 20. Jahrhunderts besaß. Neben der vergleichsweise einmalig langen Erscheinungszeit des Putzger-Atlasses wiesen auch viele andere Werke hinsichtlich ihrer Erscheinungsweise bemerkenswerte zeitliche Kontinuitäten auf. So wurden in allen untersuchten Epochen historische Schulatlanten publiziert, die länger als ein Jahrzehnt erschienen.
Bei den meisten der verlegten Werke, welche die neue und neueste Geschichte einschlossen, handelte es sich um epochenübergreifende Gesamtdarstellungen. Von 1871 bis 1990 berücksichtigten alle Atlanten historische Entwicklungen zur jüngsten Vergangenheit Deutschlands. Bezogen auf die Behandlung neuzeitlicher Themen waren inhaltliche Übergewichte in den Kartenangeboten der Atlanten bereits seit Ende der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts nachweisbar. Diese in der Tendenz sehr deutliche Dominanz neuzeitlicher Kartenthemen in historischen Schulatlanten mit einem Schwerpunkt auf der nationalen Geschichte blieb seitdem unverändert. Damit folgten Verlage und Autoren in den untersuchten Zeitabschnitten immer wieder aufs neue staatlichen Forderungen, die trotz aller sonstigen Unterschiede einen starken Gegenwartsbezug des Geschichtsunterrichts forderten und den Schülern die Geschichte ihres eigenen Landes nahe bringen wollten.
Die gesonderte Behandlung einzelner Themengebiete in speziell dafür konzipierten Atlanten wies auf den Stellenwert hin, den bestimmte Inhalte im Geschichtsunterricht der jeweiligen Zeit besaßen. So gab es in der Wilhelminischen Ära Spezialausgaben zur brandenburgisch-preußischen und deutschen Geschichte . Die Herausgabe dieser Werke unterstützte die bildungspolitischen Ziele, die führende Rolle Preußens im neu entstandenen Nationalstaat herauszustellen und die Entwicklung eines einheitlichen deutschen Geschichtsbewusstseins zu fördern. Während der Weimarer Republik erschienen Ende der zwanziger Jahre eine Reihe von „geopolitischen“ Kartenwerken. Die Konzeption dieser Atlanten entsprach dem damals herrschenden Zeitgeist und erfolgte aus nationalen Beweggründen vor dem Hintergrund der Friedensbestimmungen des Versailler Vertrages. Das Ziel der neuen Spezialatlanten war es, dem im Unterricht vermittelten Geschichtsbild eine geopolitische Prägung zu geben.
Kurz nach der Machtergreifung thematisierte eine ergänzende Ausgabe zum Putzger-Atlas die Zeit in Deutschland vom Ausbruch des Ersten Weltkrieges bis zum Jahr 1933. Damit sollte insbesondere der Aufstieg der nationalsozialistischen Bewegung und seine „historischen Gründe“ herausgestellt werden. In der Bundesrepublik Deutschland wurde Ende der fünfziger Jahre ein Atlas zur „Geschichte der deutschen Ostsiedlung“ publiziert. Das Werk verwies auf die „Kulturleistung der Deutschen im Osten“ und formulierte gleichzeitig einen historischen Anspruch auf Rückkehr der vertriebenen Deutschen. Mitte der achtziger Jahre erschien mit dem „Atlas zur deutschen Zeitgeschichte“ ein Kartenwerk zum Nationalsozialismus. Diese Herausgabe entsprach dem verstärkten gesellschaftlichen und staatlichen Interesse, das diesem Thema entgegengebracht wurde.
Richtlinien und Vorgaben für die Konzeption der Atlanten
Bereits im ersten Jahrzehnt nach der Reichsgründung hatte die staatliche Verwaltung die Schulbuchversorgung unter ihre Kontrolle gebracht. Seitdem blieb die Genehmigung von Schulbüchern und -atlanten in Deutschland staatlich reglementiert. Um eine Zulassung als Lehrwerk zu erreichen, wurden die Schulgeschichtsatlanten von Verlagen und Autoren immer wieder aufs Neue inhaltlich und konzeptionell auf die jeweils geltenden Richtlinien abgestimmt. Einige dieser Vorgaben beeinflussten im besonderen Maße die kartographische Darstellung der unmittelbaren Vergangenheit Deutschlands.
In der Wilhelminischen Ära führten der so genannte Kaisererlass von 1889 und die preußische Schulkonferenz von 1890 dazu, dass die neuere und neueste Geschichte des Deutschen Reiches im Kartenangebot verschiedener Werke stärker berücksichtigt wurde. Bereits Anfang der Weimarer Republik regelte ein Erlass des preußischen Kultusministers im Jahr 1920 die Abbildung der deutschen Vorkriegsgrenzen auf aktuellen Karten. Außerdem bewirkten die auf eine Rückbesinnung auf nationale Größe abzielenden preußischen Lehrplanrichtlinien von 1925 bei den Atlanten eine verstärkte inhaltliche Ausrichtung auf die deutsche Geschichte. Die „Richtlinien des Reichsministers des Innern für die Geschichtslehrbücher“ von 1933 beeinflussten bereits kurz nach der Machtergreifung die Konzeption der Schulgeschichtsatlanten. Infolgedessen enthielten die epochenübergreifenden Werke neben der ebenfalls geforderten Berücksichtigung der Vorgeschichte Mitteleuropas einen historischen Überblick zur Geschichte Deutschlands seit dem Ersten Weltkrieg.
Seit dem Jahr 1949 übten die unterschiedlich ausgerichteten Bildungskonzeptionen beider deutschen Staaten Einfluss auf die inhaltliche Gestaltung der historischen Schulatlanten aus. In der DDR waren die bildungspolitischen Richtlinien von der Ideologie des Marxismus-Leninismus geprägt und entsprachen den Vorgaben der Staats- und Parteiführung. Während der ostdeutsche Staat zunächst das Ziel einer baldigen Wiedervereinigung verfolgte, rückte er 1971 offiziell von diesem Standpunkt ab und propagierte seitdem die Vorstellung einer „sozialistischen Nation“. Dieser Paradigmenwechsel in der Deutschlandpolitik zeigte sich auch in den beiden untersuchten Atlanten, von denen einer in den fünfziger und der andere in den siebziger Jahren herausgegeben wurde. In der Bundesrepublik Deutschland wirkte sich eine Reihe von Vorgaben prägend auf die Darstellung der neuesten deutschen Geschichte in den Schulatlanten aus. Neben verschiedenen KMK-Beschlüssen, die eine verstärkte Behandlung bestimmter Themen im Unterricht forderten – „Ostkunde“ (1956), jüngste Vergangenheit (1960), Totalitarismus (1962), deutsche Frage (1978), Nationalsozialismus (1978 und 1980) –, waren es vor allem der Erlass der Kartenrichtlinien (1961), die Aufhebung der Richtlinien (1971) sowie der KMK-Beschluss zu den „Grundsätzen für die Darstellung Deutschlands“ (1981), die eine Änderung des vermittelten Bildes zur jüngsten deutschen Vergangenheit nach sich zogen.
Konzeption der Atlanten
In allen Epochen war das Bestreben von Verlagen und Verfassern erkennbar, staatliche Vorgaben einzuhalten. Trotz Richtlinienabhängigkeit wurden die historischen Schulatlanten aber auch von den Vorstellungen und dem persönlichen Stil ihrer Autoren geprägt. So nutzten die Verfasser zu jeder Zeit die ihnen zur Verfügung stehenden kartographischen Gestaltungsspielräume: Während der Wilhelminischen Ära existierten beispielsweise Varianten in Bezug auf die Darstellung Elsaß-Lothringens.
In der Weimarer Republik zeigten Karten etwa differierende Angaben zum „deutschen Volks- und Kulturboden“ (vgl. Abb. 1). Zur Zeit des Nationalsozialismus wurde die Abbildung des deutschen Sprachgebiets in Südtirol nach 1938 auf verschiedene Weise vermieden.
Nach 1945 boten westdeutsche Schulgeschichtsatlanten zum Teil sehr unterschiedliche Ansichten der deutschen Ostgrenze. Der historische Einheitsschulatlas der DDR „Atlas zur Geschichte“ kaschierte dagegen auf einem Kartenbild zum Potsdamer Abkommen die erfolgte territoriale Abtrennung der deutschen Ostgebiete (vgl. Abb. 2).
Deutlich ablesen ließen sich die Intentionen der Verfasser, Herausgeber und Verlage in Vorworten der Schulgeschichtsatlanten. Die einleitenden Bemerkungen enthielten konzeptionelle Zielsetzungen und verrieten oftmals, vor welchem zeitlichen Hintergrund sie geschrieben wurden. Ein zentrales Zeugnis waren die Vorbemerkungen zu den über hundert Auflagen des Putzger-Atlasses. Seit dem Jahr 1877 spiegelten diese kontinuierlich Themen und Vorstellungen wider, die zur jeweiligen Erscheinungszeit in Deutschland im bildungs- und gesellschaftspolitischen Bereich vorherrschend waren.

Abbildung 2: Atlas zur Geschichte, 2. Band, Gotha, Leipzig 1975, S. 63: „Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Potsdamer Abkommen (2.8.1945)“.
Den verschiedenen Autoren gelang es immer wieder aufs Neue, den Putzger-Atlas erfolgreich an veränderte Zeitsituationen anzupassen und so dessen Absatz zu sichern. Im Kaiserreich wurden neue Karten zur Kolonialgeschichte und dem Ersten Weltkrieg aufgenommen. In der Weimarer Republik bemühten sich die Bearbeiter Anfang der dreißiger Jahre, den Atlas unter geopolitischen Gesichtspunkten zu erweitern. Während des Nationalsozialismus kamen Abbildungen zur „germanisch-deutschen Vorgeschichte“ hinzu. Nach dem Zweiten Weltkrieg verschwanden die meisten geopolitischen, ethnischen und kriegsgeschichtlichen Inhalte aus dem Putzger-Atlas. Dafür erfolgte die Aufnahme zahlreicher neuer Karten. In den siebziger Jahren schließlich versuchten die Autoren, das Werk „universalhistorisch“ auszurichten.
Atlaskarten zur neuesten deutschen Geschichte
Unter dem Eindruck eines sich wandelnden Zeitgeistes veränderte sich im Putzger-Atlas und in anderen Werken die Darstellung der neuesten deutschen Geschichte. So wurden in allen Zeitabschnitten bestimmte Aspekte kartographisch besonders hervorgehoben. Im Kaiserreich lag neben thematischen Akzentuierungen zur Geschichte der nationalen Einigung, des Kolonialismus und des Kriegsverlaufs seit 1914 der inhaltliche Schwerpunkt auf der Veranschaulichung der preußischen Territorialgeschichte. Die im Laufe der Zeit erfolgte Erweiterung des preußischen Gebietes erschien auf den Abbildungen als eine historisch kontinuierlich verlaufende Entwicklung, an deren Ende die Vergrößerung oder das Aufgehen Preußens im deutschen Nationalstaat stand. Durch diesen visualisierten „Transformationsprozess“ wurde die brandenburgisch-preußische Politik als national-deutsche Politik verklärt und die Reichsgründung von 1871 zum Höhepunkt der deutschen Geschichte stilisiert.
Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges wurden Kartenbilder zur jüngsten deutschen Vergangenheit vorwiegend unter nationalen und später auch geopolitischen Gesichtspunkten konzipiert. In der Weimarer Zeit rückte die Abbildung der territorialen Verluste des Deutschen Reiches im Vergleich zu dessen früherer kolonialer Großmachtstellung in den Mittelpunkt. Die in sich ambivalenten Bilder von deutscher Macht und Ohnmacht sollten primär Potenziale für den Wiederaufstieg Deutschlands aufzeigen. Vor allem mit statistischen Informationen zu angeblichen ethnischen und kulturellen Gegebenheiten wurde auf geopolitischen Karten versucht, eine Revision der deutschen Grenzen wissenschaftlich zu untermauern.
Seit der Machtergreifung beeinflusste die nationalsozialistische Weltanschauung die Kartengestaltung in den Schulgeschichtsatlanten. Um die deutsche Wiederaufrüstung zu rechtfertigen, wurde anfänglich auf Abbildungen besonders die „Schutzlosigkeit“ Deutschlands betont. Später rückte dann die unter Hitler erfolgte territoriale Expansion stärker in den Vordergrund. Als Glanzpunkt der deutschen Geschichte erschienen nicht mehr die Reichsgründung von 1871, sondern das Jahr 1933 und der Aufstieg des NS-Staates zum „Großdeutschen Reich“. Die schon zur Weimarer Zeit in Kartenbildern manifestierte Ablehnung der Friedensbestimmungen von Versailles, verbunden mit dem geopolitisch begründeten imperialen Anspruch auf weite Teile Osteuropas, war leicht im nationalsozialistischen Sinn umzufunktionieren. Die kartographischen Inhalte zur neuesten deutschen Geschichte brauchten nur noch um den rassischen Imperialismus und die „Lebensraum“-Ideologie des Nationalsozialismus ergänzt und verändert werden.
Nach 1949 bestimmte der Ost-West-Gegensatz die Darstellung der jüngsten Vergangenheit Deutschlands in den west- und ostdeutschen Schulgeschichtsatlanten. Dabei waren zwischen beiden Gruppen deutliche Unterschiede feststellbar. In dem 1975 herausgegebenen DDR-Einheitsschulatlas konzentrierte sich die von der Ideologie des Marxismus-Leninismus geprägte kartographische Behandlung der neuesten Zeit auf die eigene staatliche Vorgeschichte. Die Gründung und sozialistische Entwicklung der DDR erschien als Höhepunkt der gesamten deutschen Geschichte. Dagegen wurde die Bundesrepublik Deutschland auf Kartenbildern kaum berücksichtigt und deren historische Entwicklung lediglich als Antithese zum angeblich demokratischen Werdegang der DDR gezeigt.
Im Gegensatz dazu behandelten westdeutsche Atlanten vor allem die Teilung Deutschlands und die Darstellung der „innerdeutschen Verhältnisse“ nach Kriegsende als zentrale Themen. Anhand der eigenen nationalen Geschichte wurde der globale Ost-West-Konflikt exemplarisch erklärt. In diesem Zusammenhang erfolgte auch eine kartographische Visualisierung der Folgen des Zweiten Weltkrieges. Dabei stand die Veranschaulichung der Vertreibung des eigenen Volkes aus dem Osten und dessen Aufnahme in der Bundesrepublik als große thematische Konstante im Mittelpunkt. Im Zuge der Anfang der siebziger Jahre einsetzenden Entspannungspolitik verstärkten sich auf den Deutschlandkarten die Angaben zur deutschen Teilung, während sich gleichzeitig eine allmähliche „optische Rücknahme“ und schließlich Aufgabe der Ansprüche auf die deutschen Vorkriegsgrenzen vollzog.
Selektive Bilder
Neben den geschilderten inhaltlichen Schwerpunktsetzungen gab es in allen Epochen auch Themenbereiche zur neuesten deutschen Geschichte, die aus bildungs- oder gesellschaftspolitischen Gründen auf Karten bewusst ausgelassen und verschwiegen wurden.

Abb. 3: Die Welt im Spiegel der Geschichte, 15. Auflage, München 1966, S. 34: „Nationalsozialistische Judenverfolgung. Umsiedlungen in Ost-Mitteleuropa nach 1945“.
Am Ende der Wilhelminischen Ära zur Zeit des Ersten Weltkrieges erhielt der Atlasbenutzer beispielsweise keine augenfälligen Informationen über die militärischen Rückschläge der Mittelmächte. Während der Weimarer Republik fehlten auf den Abbildungen zur unmittelbaren Vergangenheit klare Hinweise auf die neue demokratische Staatsform in Deutschland. Stattdessen beschränkte sich das vermittelte Bild des eigenen Landes auf die Darstellung von Gebietsabtretungen. Im Nationalsozialismus verschwanden kartographische Angaben zu geopolitisch und ethnisch begründeten Anspruchsgebieten. Bis Anfang der sechziger Jahre wurde in den westdeutschen Kartenwerken eine Thematisierung der NS-Zeit im eigenen Land vermieden. Der Massenmord an den Juden erschien auch später noch auf einigen Abbildungen nur als logistischer Vorgang im Zusammenhang mit Bevölkerungsverschiebungen (vgl. Abb. 3). Auch der DDR-Einheitsschulatlas sparte Informationen aus, die den Machthabern nicht in das politische Konzept passten. So enthielt das Werk beispielsweise keine Angaben zur Vertreibung der Deutschen und zum unklaren rechtlichen Status der Ostgrenze.
Die untersuchten Atlaskarten zeigten in jeder Epoche ein selektives Bild der jüngsten deutschen Geschichte. Es blieb auf bestimmte Themen konzentriert und berücksichtigte andere hingegen nicht, obwohl dies innerhalb des begrenzten Kartenbestandes der einzelnen Werke möglich gewesen wäre. Die kartographisch vermittelten Deutschlandbilder waren keine Konstanten, sondern unterlagen einem fortwährenden historischen Wandel. Trotz aller Änderungen gab es aber auch Kontinuitäten, die über Brüche im Zeitgeschehen hinweg erhalten blieben.
Kontinuitäten
Das kartographische Instrumentarium an grundlegenden Darstellungselementen wie beispielsweise der Einsatz von Grenzlinien, Territorialfarben oder Pfeilsignaturen änderte sich trotz zahlreicher Modernisierungen vom Grundsatz her nicht wesentlich. Seit der Weimarer Zeit wurden die kartographischen Gestaltungsmöglichkeiten durch die Integration von Statistiken, Fotos oder graphischen Abbildungen erweitert. Außerdem setzten die Autoren vermehrt dynamische Elemente wie Pfeile auf Kartenbildern ein. In den siebziger Jahren erfolgte ein nochmaliger Modernisierungsschub durch die verstärkte Hereinnahme von statistischen Informationen, bildhaften Signaturen und erläuternden Texten. Die Angaben älterer Kartenbilder blieben aber durch alle Epochen hindurch immer verstehbar.
Trotz neuer Entwicklungen trugen die Atlanten ein altes Erbe in sich, das bis in die Zeit vor der Reichsgründung zurückreichte. Es gab Kontinuitäten bei der Verwendung von bestimmten Territorialfarben, die ursprünglich aufgrund der in einzelnen Ländern im Gebrauch befindlichen Uniformfarben gewählt wurden. So erschien bis in die heutige Zeit Preußen im Putzger-Atlas und in anderen Werken immer mit demselben „preußisch-blauen“ Farbton. Dieselbe farbliche Kennzeichnung wurde ebenfalls für die Darstellung Deutschlands verwandt. Auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg bildeten sich politisch abgeleitete Farbkonventionen für einzelne Staaten heraus, wie beispielsweise bei der Darstellung des Dritten Reiches (braun) oder der Sowjetunion (rot). Ein weiteres konservatives Gestaltungsmoment war der Einsatz eines roten Saumbandes auf Deutschlandkarten, das schon auf antiken und mittelalterlichen Karten zur Markierung von Grenzen Verwendung fand. Auf Kriegskarten wurden seit dem 19. Jahrhundert die beiden gegnerischen Parteien immer in roten und blauen Farbtönen dargestellt, da die zwei Farben optisch den größten Kontrast im Farbspektrum boten. Auch die Signaturensprache der Atlanten orientierte sich an wahrnehmungspsychologischen Gesichtspunkten. Da die Abbildung von Kreuzen am eindrücklichsten die Zahl der Kriegstoten veranschaulichen konnte, bediente sich selbst der DDR-Einheitsschulatlas dieser christlichen Symbolik.

Abbildung 4: Harms kleiner Geschichtsatlas mit Bildern, München 1961, S. 19: „Der Imperialismus und seine Folgen“.
Die gestalterischen Kontinuitäten zeigten zum einen die Begrenztheit kartographischer Darstellungsmöglichkeiten, andererseits belegten sie auch deren Variabilität. So konnte die kartographische Bild- und Formensprache in allen Zeiten ganz unterschiedliche Bildungs- und Erziehungsziele mit denselben gestalterischen Mitteln bedienen. Gleichzeitig ließ sich auch eine Übernahme veralteter Gestaltungselemente in neue Auflagen nachweisen, obwohl die Angaben in einem ganz anderen zeitlichen Kontext entstanden. Wie das Beispiel einer Darstellung zum deutschen Grenzstand nach dem Ersten Weltkrieg in den List-Atlanten deutlich zeigte, wurden teilweise kartographische Informationen unter Verlust ihres ursprünglichen Bezuges verselbstständigt weitergeschleppt (vgl. Abb. 4).
Die historischen Schulatlanten wiesen in gestalterischer und inhaltlicher Hinsicht große Beharrungskräfte auf. In der Ausgabe des Putzger-Atlasses von 1990 reichten noch viele Kartenstammbäume in das 19. Jahrhundert zurück. Die zu dieser Zeit tradierte thematische Schwerpunktverteilung der Karten wurde noch bis in die sechziger Jahre jeweils auf neue Auflagen übertragen. Auch Kartendetails, die ein Nationalverständnis widerspiegelten, das aus der Zeit vor 1945 stammte, blieben weiter im Putzger-Atlas enthalten. So wiesen noch in den neunziger Jahren Legenden von Völkerkarten Österreicher als Deutsche aus. Im Gegensatz zu Darstellungen während des Kaiserreichs wurden seit der Weimarer Zeit Abbildungen zur räumlichen Ausdehnung des deutschen Siedlungsgebiets verwendet, die insbesondere für Oberschlesien, Masuren und das Gebiet des polnischen Korridors eine mehrheitlich deutsche Bevölkerung zeigten (vgl. Abb. 5).
Eine weitere Konstante in den untersuchten Atlanten ergab sich bezogen auf die Darstellung von historisch-politisch bedeutsamen Räumen und Grenzen. Nach dem Friedensschluss von Versailles wurden bei Abbildungen zum aktuellen deutschen Territorialstand Verweise auf frühere Gebietsstände integriert.
Damit wiesen viele Kartenbilder Deutschlands eine räumliche Ausdehnung auf, die über gegenwärtig bestehende Grenzen hinausreichte. Außerdem wurde seit der Zeit der Weimarer Republik auf den jeweils aktuellen Deutschlandkarten gestalterisch der Eindruck vermittelt, es handele sich bei den Vorkriegsgrenzen um die eigentlich rechtmäßigen. In den Anfangsjahren der Bundesrepublik Deutschland gingen die Autoren sogar noch über diese Art der Darstellung hinaus, indem sie die deutschen Ostgebiete durch Flächenfärbung als inhärenten Bestandteil Deutschlands zeigten und die erfolgte Abtrennung der Territorien lediglich durch optisch unauffällige Linien andeuteten. Erst in den siebziger Jahren wurde die Grenzdarstellung abgeschwächt, und die deutsche Reichsgrenze von 1937 rückte als „historischer Grenzstand“ zunehmend in den Hintergrund.
Lediglich in den Atlanten der Kaiserzeit erschien das Deutsche Reich auf Karten als „saturiertes Territorium“. Dagegen enthielten die Kartenbilder Deutschlands zwischen 1919 und 1990 – in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen – immer wieder Definitionen von ethnischen und politischen Anspruchsräumen, die vor allem im Osten lagen. Die kartographischen Hinweise auf diese „räumlichen Potenziale“ ließen den gerade gegenwärtigen Gebietsstand stets als unvollkommen und veränderbar erscheinen. Die kartographisch vermittelte Vorstellung von den „eigentlichen“ deutschen Grenzen entsprach meistens nicht der Realität und war oft Ausdruck expansiver außenpolitischer Zielsetzungen.
Die Veranschaulichung der neuesten deutschen Geschichte in den historischen Schulatlanten war in allen untersuchten Zeitepochen von territorialen Veränderungen geprägt. Vor diesem Hintergrund bildeten sich zum Teil unter direktem staatlichem Einfluss verschiedene Gestaltungsgrundsätze heraus, an denen sich die kartographische Visualisierung des eigenen Territoriums orientierte. Seit der Weimarer Republik wurde dieses gestalterische Instrumentarium dazu genutzt, auf angeblich ungerechte Kriegsfolgen hinzuweisen. Viele Abbildungen appellierten an die Emotionen der Betrachter und versuchten in suggestiver Weise revisionistische Auffassungen zu vermitteln. Diese Entwicklung setzte sich auch nach dem Zweiten Weltkrieg fort. Auf vielen westdeutschen Kartenbildern, die das deutsche Volk als Leidens- und Opfergemeinschaft zeigten, erfolgte in gestalterischer Hinsicht eine Wiederbesetzung von Positionen aus der Weimarer Zeit. Die Autoren verwandten dasselbe kartographische Rüstzeug, welches ihnen bereits im Kampf gegen den Versailler Frieden gedient hatte, um nun die Bestimmungen des Potsdamer Abkommens bildlich in Frage zu stellen.
Schlussbemerkung
Der Einfluss von Politik und Zeitgeschehen auf die Auswahl und Umsetzung kartographisch dargebotenen Geschichtswissens zeigte sich in allen untersuchten Atlanten. Eine besondere Rolle spielten dabei die auf politisch-weltanschaulichen Überlegungen fußenden staatlichen Richtlinien und Vorgaben zum Geschichtsunterricht. In jeder Epoche bildeten sich bestimmte Vorstellungen zur gegenwärtigen „historischen Lage“ des eigenen Staates heraus, die in Kartenwerken visualisiert wurden. Damit wurde die räumliche Vorstellungswelt der Betrachter bereits in der Schule so geprägt, dass sie den jeweils vorherrschenden gesellschaftlichen Normen und Vorstellungen entsprach.
In dem Bemühen, die Zulassung und den Absatz ihrer kartographischen Lehrwerke sicherzustellen, vollzogen Autoren und Verlage alle Wendungen der deutschen Politik getreulich nach. Dies hinderte sie nicht daran, aus Kostengründen auch alte Kartenvorlagen weiter im Bestand ihrer Atlanten zu lassen. So hielten sich in verschiedenen Werken inhaltliche und gestalterische Anachronismen aus früherer Zeit. Die kartographische Bildersprache wurde in jeder Epoche als Instrument der Manipulation genutzt und blendete dabei zum Teil auch historische Aspekte und Themen aus. Trotz des politischen Anpassungsdrucks, dem die Atlanten unterworfen waren, zeigten sich auf ihren Abbildungen in mancher Hinsicht überraschende Gestaltungsspielräume und Darstellungsvarianten.
Ein Vergleich der Werke und ihrer Auflagen hinsichtlich Konzeption, thematischer Schwerpunktsetzung und Kartengestaltung machte es möglich, gemeinsame Züge, Kontinuitäten und Brüche der vermittelten Deutschlandbilder sichtbar werden zu lassen. Prägend für das Kartenangebot der Schulgeschichtsatlanten war die seit Ende des 19. Jahrhunderts erkennbare inhaltliche Konzentration auf die Neuzeit und die unmittelbare Vergangenheit. Die Analyse der in den Atlanten enthaltenen Kartenbilder zur jeweils neuesten deutschen Geschichte offenbarte Veränderungen des nationalen Denkens in räumlichen Kategorien zwischen 1871 und 1990. Die Abbildungen vermittelten das vorherrschende nationale Bewusstsein und die geltenden „geistigen Landkarten“ der Zeit, über welche Autoren und Rezipienten verfügten. Durch die Kontinuität ihrer politisierten und staatstragenden Funktion spiegelten die untersuchten Geschichtsatlanten gleichsam als „Medien des nationalen Zeitgeistes“ anschaulicher und markanter als textbasierte Quellen sich wandelnde Haltungen einer ganzen Gesellschaft wider.
Bibliographie
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Autoren
Dr. Patrick Lehn
Zeppelinstraße 45
69121 Heidelberg
patrick.lehn@web.de
Publikation zu diesem Artikel:
Patrick Lehn: Deutschlandbilder. Historische Schulatlanten zwischen 1871 und 1990, Verlag Böhlau;1., Aufl. 2008