Vor- und Satellitenstädte
Der letzte Exkursionstag widmete sich schließlich der neueren Stadterweiterung und damit – aus quantitativer Sicht – jenen Bereichen, in denen gut die Hälfte der Bevölkerung des metropolitanen Raumes lebt. Vor der Kulisse von sich unendlich ausdehnenden Wohnsiedlungen mit Hochbauten, überwiegend aus Ziegelstein, wurde die Entwicklung der Situation von Wohn- und Arbeitsbevölkerung thematisiert, die zeitgleich zu dem Bau der gläsernen Büro- und Hotelbauten in den prestigeträchtigen städtischen Norden stattfand. Bereits angelegt durch den funktional trennenden und damit tendenziell segregierenden ersten Plan der Stadterweiterung von J. M. Castro aus dem Jahr 1857, konzentrierten sich Bahngelände, Logistikflächen, Entsorgungsflächen, Schlacht- und Friedhöfe im Madrider Süden und Osten. Auch als in den 1960er Jahren schließlich die industrielle Entwicklung in die Gänge kam, wurden erste Automobilfabriken, Einrichtungen der Schwerindustrie und Gewerbeparks überwiegend entlang der Bahnachse nach Osten und im Süden angelegt, wobei auch die vorherrschende Windrichtung mit den die Industrie-Abgase von der Stadt wegtragenden Fallwinden von den Bergen eine Rolle gespielt haben mögen. Gleichzeitig setzte ein ungeheurer Zuwanderungsstrom von den in den Jahren nach dem Bürgerkrieg weitgehend verarmten Landgebieten aus dem Süden und Westen des Landes ein – ganze Dörfer zogen aus Andalusien und der Extremadura nach Barcelona und Madrid, in der Hoffnung auf Arbeit und eine neue Zukunft. In Madrid war die Franco-Verwaltung auf dieses Phänomen nicht eingestellt. Ganz im Gegenteil, verfolgte sie Pläne von großen Bauprojekten, die Partei und Regime verherrlichen sollten, und setzte eine streng hierarchische Bauordnung durch, die die Planungshoheit alleinig der Zentralregierung bzw. den ihr untergeordneten Stufen überließ. Eine Möglichkeit des privaten Bauens durch den Normalbürger war nicht gegeben, eine Entwicklung wie die Förderung des westdeutschen Eigenheims nach dem 2. Weltkrieg war nicht nur nicht vorgesehen, sondern wurde faktisch unmöglich gemacht. Die Franco-Regierung selber schuf einige kleinere städtische Wohnsiedlungen mit Wohneinheiten von sehr geringer Größe und Qualität, das Gros der Zuwanderer blieb jedoch auf der Straße – unabhängig davon, ob sie über Arbeit und Geld für eine Wohnung verfügten oder nicht. Entsprechend glich der Besiedlungsprozess in den 1960er Jahren dem von Großstädten in Entwicklungsländern: über Nacht besetzte bzw. vom Besitzer parzellierte und verkaufte, vorher landwirtschaftlich genutzte Grundstücke wurden in wenigen Stunden mit Baracken bebaut, und was einmal stand, wurde geduldet. Zum Zeitpunkt von Francos Tod 1975 zählte man am Madrider Stadtrand allein innerhalb der Stadtgrenze rund 35.000 Baracken, die kein Wasser und keine Abwasserleitungen hatten, keine sanitären Einrichtungen, nur halbschaurig verlegte Stromleitungen, keine asphaltierten Straßen und eine mehr als rudimentäre infrastrukturelle Versorgung mit Schulen, Geschäften oder etwa mit Gesundheitseinrichtungen. Im Durchfahren mit einer Vorort-Bahnlinie konnte die Gruppe die Bebauung sehen, die in den Folgejahren, d.h. im Wesentlichen unter der ersten sozialdemokratischen Regierung (1982-96), für diese Bevölkerung entstanden ist. Durch die konzertierten Bemühungen von nachbarschaftlichen Vereinigungen wurde damals durchgesetzt, dass diese Bevölkerung nicht einfach irgendwohin in Neubauten weiter außerhalb umgesetzt wurde, sondern dass sie mit ihrer gewachsenen Sozialstruktur – vielfach waren die Dorfverbände aus den Herkunftsregionen in die Nachbarschaftsvereinigungen der Baracken-Siedlungen übernommen worden – dort wohnen bleiben konnten, wo sie waren. Die Neubauten wurden durch ein staatlich subventioniertes Planungsverfahren sukzessive auf den frei werdenden Abrissflächen erstellt, und die Bewohner zogen gruppenweise in die neuen Häuser, wo sie Eigentümer der jeweiligen Etagenwohnung wurden. Durch diese, in der franquistischen Gesetzgebung angelegte, PolitikproWohneigentum stieg in ganz Spanien die Eigentumsquote von ca. 50% in den 1950er Jahren auf 86% rund 40 Jahre später. Und auch das franquistische Prinzip der hierarchischen Planungshoheit wurde bis heute beibehalten, so dass nach wie vor keinerlei Zersiedlungsprozesse an den Stadträndern zu beobachten sind. Die Bahnfahrt endete in der Satellitenstadt Leganés, die eine von sieben Großstädten im Süden der metropolitanen Region ist und für die Exkursion als pars pro totodiente. Unmittelbar fiel das gegenüber der Kernstadt deutlich niedrigere Preisniveau in allen Schaufenstern, in den Angeboten von Immobilienbüros oder auch von den Lokalen auf. Das durchgängig kleinbürgerliche Gepräge von Innenstadt, Fußgängerzone und angrenzenden Wohngebieten wirkte auf die Gruppe durchaus freundlich, in Parks, auf den Plätzen und angesichts der heutzutage vorhandenen guten Infrastruktur wurde eine bescheidene aber wahrnehmbare Lebensqualität offensichtlich. Im Komplex eines zum Campus der Universität Carlos III umgewidmeten Kasernenbaus aus dem 18. Jh. sprach die Gruppe – als Exkurs – auch über das Bildungswesen und die verspätete Einrichtung dieser und einer weiteren Vorort-Universität in den südlichen Arbeitervororten. Dies gegenüber der traditionellen Universität Complutense am nordwestlichen Madrider Stadtrand – mit 85.000 Studierenden immer noch die größte Universität der Stadt – sowie der im Zuge der territorialen Neuordnung Spaniens in Autonomien eingerichteten Universität Autónoma des Bundeslandes Madrid, die ebenfalls weit nördlich des Stadtrandes angesiedelt worden war. Somit dauerte es bis 1989, bis die erste öffentliche Universität hier in Leganés (technische Fakultäten) und mit einem weiteren Teilcampus im Nachbarort Getafe den Universitätsbesuch auch für die Kinder der Bevölkerung im Süden räumlich erreichbar machte. Abschließend wurde bei einem Besuch in der Stadtplanung von Leganés dort noch einmal die Entwicklung der Stadt erläutert, die um 1950 noch 5000 Einwohner hatte und sich heute auf einer Zahl von knapp 190.000 einpendelt. Allein die sieben südlichen Satellitenstädte haben zusammen 1,2 Millionen Einwohner. Es wurde zwar konstatiert, dass derzeit kein sehr großer Wachstumsdruck mehr bestehe, es jedoch eine deutliche Tendenz von jungen Familien gebe, sich hier um Wohnraum zu bemühen, weil er preisgünstiger als in der Kernstadt ist. Es wird daher von der Stadt auf der letzten verbliebenen Fläche, die der Flächennutzungsplan zur Bebauung vorsieht, in den nächsten Jahren ein weiteres Viertel mit gut 10.000 Wohnungen erstellt, wobei rund 20% davon Sozialwohnungen sein werden. Gleichzeit bemüht man sich um die Ansiedlung von modernen Industriebetrieben, besonders, da in der letzten Wirtschaftskrise eine ganze Reihe von traditionellen Industriebetrieben schließen musste. Während die schon länger existierenden Gewerbegebiete zunehmend von tertiären Funktionen besetzt werden, hat Leganés in Zusammenarbeit mit dem Bundesland Madrid kürzlich einen verkehrsgünstig angelegten Technologiepark ausgewiesen, der im Einklang mit den national und international recht renommierten Technik-Fakultäten der Hochschule entwickelt wird. Der Besuch in Leganés hat zudem die seit den 2000er Jahren deutlich verbesserte Anbindung der Vorstädte mit dem öffentlichen Verkehr gezeigt – beispielhaft die U-Bahn-Ringlinie durch fünf der sieben südlichen Satellitenstädte – , wie überhaupt die Exkursionsgruppe in diesen Tagen perfekt gelernt hat, das Fahren im System der Madrider U-Bahn und Busse sowie der Vorort-Züge zu meistern. Dr. Sabine Tzschaschel, Madrid (ehem. Institut für Länderkunde Leipzig)
Nachwort einer Exkursionsteilnehmerin
Die Exkursion nach Madrid erfüllte in besonderer Weise das Ziel der Prof. Dr. Frithjof Voss-Stiftung und ihres veranstaltenden Freundeskreises, das breite Spektrum einer modernen Geographie zu demonstrieren, eine Verbindung zwischen geographischer Fachwissenschaft und aktuellen Lebenslagen zu schaffen und der Geographie neue Freunde zu gewinnen. Die Leiterin der Exkursion, Frau Dr. Tzschaschel, verstand es ausgezeichnet, die kompliziertesten Zusammenhänge auch den die Mehrheit der Teilnehmer bildenden Nichtgeographen, aber an der Geographie Interessierten, in lockerer und eingängiger Weise nahe zu bringen und ihnen den geographischen Blick auf das Gesehene zu vermitteln – ein Alleinstellungsmerkmal gegenüber sonstigen Reisen in fremde Städte und Länder. Dr. Heike Christina Mätzing