Das nördliche Umland
Zwischengeschoben wurde am zweiten Tag ein Bus-Ausflug ins nördliche Madrider Umland, der der Gruppe sowohl ein Gefühl für die geographische Lage der Stadt vor dem kastilischen Scheidegebirge sowie auch für das äußere Stadtwachstum im nördlichen Außenbereich vermitteln sollte. Vor der Kulisse der in der Höhe noch dick verschneiten Bergkette wurde zuerst das franquistische Bürgerkriegs-Denkmal im Valle de los Caídos (Tal der Gefallenen) besichtigt. An dieser Stelle konnten die historisch-gesellschaftlichen Ereignisse und die für die Landes- und Stadtentwicklung wesentlichen Prozesse im Spanien des 20. Jahrhunderts thematisiert werden. Anschließend wurde mit dem Besuch im Klosterort San Lorenzo del Escorial gerne eine Konzession an das touristische Interesse der Gruppe gemacht, aber der Klosterbau des 16. Jhs. als solcher und an diesem Ort, seine Vorgeschichte und sein Einfluss auf die Siedlungsentwicklung hier im Bergland, etwa 60 km nördlich der Stadt, kamen dabei ebenfalls zur Sprache. Zuletzt brachte die Bustour die Gruppe zwischen teilweise schneebedeckten Hängen und still stehenden Skiliften über zwei Bergpässe von gut 1800 m in das Hochtal des Lozoya – ein Flüsschen, das ganz wesentlich für die Wasserversorgung der Großstadt Madrid durch den Canal Isabel II geworden war, nachdem im 19. Jh. die schon von den Mauren angelegten unterirdischen Quellfassungen (Qanate) den steigenden Wasserbedarf der wachsenden Stadtbevölkerung längst nicht mehr ausreichend abdecken konnten. Als „Zugabe“ konnte in diesem Hochtal das bereits im 13. Jh. gegründete Kartäuserkloster El Paular besucht werden. Die Rückfahrt zeigte eindringlich die Durchsetzung des Bergvorlandes mit Orten der Sommerfrische und den gleitenden Übergang von diesen in Wohnvororte einer besser gestellten oberen Mittelklasse. Die Strecke führte danach vorbei an den eigenständigen Orten San Sebastian de los Reyes und Alcobendas, die sich an den nördlichen Madrider Stadtrand lückenlos anschließen und in den letzten Jahrzehnten ein Wachstum bis an die 100.000 Einwohner verzeichnet haben. Sie gelten – speziell entlang der auf die Stadt zuführenden Autobahnstrecke – als bevorzugte Standorte für große Büro- und Verwaltungsbauten ausländischer Firmen. Als „ambulantes“ Thema wurden auf dieser Fahrt auch die Probleme von Verkehr, Straßenausbau und Steuerung des Individualverkehrs veranschaulicht und besprochen.
Freizeit und Touristifizierung
Chronologisch ging es am dritten Tag weiter, an dem anfangs ein Rundgang durch den sonntäglich verschlafenen Bereich in Hotelnähe, das Barrio Malasaña, vor Augen führte, welche Nutzung jene Stadtviertel haben, die zwar innerhalb der sehr weit gefassten Stadtmauer der Habsburger aus dem 17. Jh. liegen und über eine attraktive Altbausubstanz verfügen, die sich aber nicht direkt im City-Einkaufsbereich befinden. Vor dem Hintergrund von sich nach nächtlichen Gelagen türmenden Müllbergen, einer emsig beschäftigten städtischen Reinigungstruppe und unzähligen – zu dieser Tageszeit allerdings geschlossenen – Bars und Kneipen befasste sich die Gruppe mit Themen wie der hohen Wohndichte im Innenstadtbereich, der partiellen Gentrifizierung (nur im Wohnsektor, nicht aber durch tertiäre Funktionen) sowie dem in europäischen Großstädten inzwischen allgegenwärtigen Phänomen der Touristifizierung. In diesen zentralen Stadtvierteln addieren sich enorm hohe Zahlen von Einrichtungen des Nachtlebens und kleinen Geschäften für eher alternative, kaufkräftige junge Besucher aus den Vorstädten und aus dem Ausland zu den überwiegend in der Innenstadt verorteten 85.000 Hotelbetten. Hinzu kommt die zahlenmäßig nur unzureichend erfasste Menge von über Internetplattformen vermieteten Privatwohnungen (Schätzungen schwanken zwischen 8000 und 20.000 Einheiten, knapp 7000 sind allein bei airbnb registriert), die einerseits die etablierte Wohnbevölkerung verdrängen und die Preise in die Höhe treiben und andererseits ebenfalls zu der fluktuierenden Bewohnerzahl beitragen. In diesem Zusammenhang wurde auch über die Mechanismen der sog. Immobilienblase, deren Platzen im Jahr 2007 und die daraus folgenden Zwangs-Enteignungen und hohen Spekulationsleerstände gesprochen, welche inzwischen wieder zu einem beträchtlichen Ansteigen der Wohnungspreise geführt haben. Das zweite Madrider Stadtmuseum (Museo de Historia de Madrid), das die Entwicklung seit der endgültigen Hauptstadternennung (1631) behandelt, bot mit seinen Plänen und insbesondere mit einem eindrucksvoll detaillierten Stadtmodell aus dem Jahr 1830 den chronologischen Anschluss an den ersten Tag. Hier zeigte sich anschaulich, wie die Stadt in den 200 Jahren seit der Umgrenzung durch die Habsburger flächig so gut wie nicht gewachsen war, so dass sich Madrid im 19. Jh. als eine aus allen Nähten platzende Verwaltungs-Hauptstadt darstellte, in der es noch keinerlei Anzeichen für eine Frühindustrialisierung zu verzeichnen gab. Der folgende Besuch auf dem Aussichtsturm des Circulo de Bellas Artes verschaffte dann einen ersten Blick auf die Gebiete, in die die Stadt in den Folgejahren gewachsen war. Danach konnte die Gruppe mit dem sonntäglichen Besuch im Retiropark und einem frugalen Picknick dort die vielfältige Freizeitnutzung in dieser fast einzigen grünen Oase der Innenstadt, dem Park des ehemaligen königlichen Lustschlosses, beobachten. Von dort aus ging es – über den Abstecher zum als Gewächshaus umgenutzten alten Atocha-Bahnhof – mit dem Bus ans Ufer des Flusses Manzanares. Historisch wesentlich für die Ansiedlung der arabischen Siedlung an genau diesem Ort im Bergvorland, wurde er in den Stadterweiterungen des 19. Jhs. eher als störender Begrenzungsfaktor wahrgenommen und im 20. Jahrhundert durch eine Kanalisierung misshandelt, was darin mündete, dass in den 1960er Jahren die in jeder Richtung dreispurige Stadtautobahn des M-30-Autobahnrings beiderseits des Flussufers entlanggeführt wurde. Die Exkursionsgruppe konnte sich nun selber davon überzeugen, wie hier ein gigantisches Umbauprojekt gelungen ist, das in den Jahren nach 2000 die Stadtautobahn über 8 km in einen Tunnel tief gelegt hat, so dass auf den dadurch entstandenen Freiflächen an beiden Ufern des Flusses ein ebenso langer bandförmiger Stadtpark angelegt werden konnte, der durch eine aufwändige und phantasievolle, sehr vielfältige Landschaftsarchitektur besticht. Der Weg durch den Flusspark „Madrid Río“ endete im ehemaligen Schlachthofgelände (Matadero) mit seiner gut erhaltenen Industriearchitektur. Die vielen großen Hallen bilden einen idealen Rahmen für ein städtisches Kulturzentrum, das mit experimentellen Theaterbühnen, Balletträumen, Ausstellungsflächen, einer Filmothek und vielerlei weiteren Einzeleinrichtungen ein breit gefächertes kulturelles Angebot für die Bevölkerung bietet.