Auf der jetzigen Reise jedoch wollte ich in die entgegengesetzte Richtung, und nachdem das Flugzeug in Balmaceda gelandet war, musste bis nach Coihaique nur noch eine geringe Distanz von 50 km überwunden werden. Die Busfahrer bewältigen die Strecke vom Flughafen bis in die Regionalhauptstadt in einer knappen Stunde. Dabei lassen sie ihre Fahrzeuge in rasantem Tempo die kurvenreiche Piste vom Hochplateau hinunter ins Tal rollen und nehmen damit den selben Weg, den vor Jahrtausenden schon das abtauende Eis einer Gletscherzunge suchte. Auf dieser Höllenfahrt scheppert, knallt und kracht das glaziale Geröll beständig gegen die Bodenbleche der Busse und nagt gierig weiter an den zum Teil schon faustgroßen Löchern. Durch diese fällt der Blick dann auf hinwegsausende, kaum ausgebaute Straßen, Künder eines rauen Lebens … Mir jedoch bescherte die Fahrt eine kostenlose Sightseeingtour durch großartige chilenische Fjordlandschaft, die nicht selten an Norwegen erinnert.
In jenem Jahr 2001 herrschte in Südchile ein Jahrhundertsommer, und so konnte ich hoffen, sofort mit den Luftbildaufnahmen beginnen zu können, zumal für Flüge mit einer Maschinen der I-Klasse gute Wetterverhältnisse im wahrsten Sinne des Wortes existentiell sind. Meinen Piloten traf ich daher unmittelbar am Tag nach meiner Ankunft im Zentrum von Coihaique, nahe der fünfeckigen Plaza in der Avenida Baquedano. Das Büro war typisch chilenisch und für deutsche Begriffe mehr als bescheiden eingerichtet. Es maß etwa die Größe einer halben Garage und war mit einem Schreibtisch und einem Stuhl, einem Pentiumrechner sowie einigen grau-schwarz gefärbten Aktenordnern auf schwankenden Regalen eingerichtet. An der Rückwand des kleinen Raumes hing die sehr majestätisch wirkende chilenische Nationalflagge. „Hay, hay, hay,“ begrüßte mich der Refrain einer sich dem Transistorradio entwindenden Quequa. Ein junger Mann streckte mir freundlich die Hand entgegen: „¡Hola! Que tal?“ Trotz seiner erst 24 Jahre wirkte Ernesto Hein ruhig, überlegen und gesetzt, und nicht zuletzt diese Eigenschaften sind es wohl, die ihn schon in jungen Jahren zu einem exzellenten Flieger gemacht haben. Vielleicht hat er die Leidenschaft fürs Fliegen auch von seinem Großvater geerbt, einem passionierten Piloten und Nachkommen deutscher Einwanderer, die im 19. Jahrhundert nach Chile kamen. Doch wie die meisten Chilenen solcher Auswandererfamilien spricht auch Ernesto kein Deutsch mehr. Dass er mit seinem Hobby, dem Fliegen, seinen Lebensunterhalt verdienen kann, verdankt dieser „Pionero“ nicht zuletzt der südchilenischen Landschaft. Denn ein normales Straßennetz ist hier wegen der Landschaft so gut wie unmöglich zu konstruieren, dementsprechend sind Ärzte, Patienten, Regierungsbeamte und vor allem Frachtgüter aller Art darauf angewiesen, von Ernestos einmotoriger Archer Piper oder seiner zweimotorigen Archer Simenol über die unwegsame Fjordlandschaft transportiert zu werden. Diesmal nun sollten sie im Auftrag der Geographie unterwegs sein!
Als wir auf dem kleinen Sportflughafen von Coihaique ankamen, erwartete uns die im Urzustand eigentlich sechssitzige Piper Archer. Um jedoch einen hinreichend großen „Arbeitsplatz“ für mich zu schaffen, waren die hinteren Sitzreihen ausgebaut worden. An ihrer Stelle blinkt uns ein blankes Bodenblech entgegen, in dem sich eine etwa 30 x 30 cm große Öffnung befand, notdürftig bedeckt mit einem Fußabtreter. In einer Flughöhe von etwa 3 km würde diese Abdeckung durch meine Linhof Aero technica ersetzt werden, die ich in die Öffnung hängen würde, um so Aufnahmen von zum Teil niemals zuvor kartierten Siedlungen zu machen. Dabei muss der Apparat absolut senkrecht hängen und darf nicht aufgestützt werden, da sich sonst die Vibrationen des Flugzeugs auf das Gerät übertragen und die Aufnahmen verzerren könnten. Bei einem Kameragewicht von etwa 8 kg ist eine solche Unternehmung daher immer auch ein kostenloses Krafttraining. Diesmal erstreckte sich der „Fitnesskurs“ auf über drei Tage mit je sechs Flugstunden, dann aber hatten wir, nicht zuletzt dank der ausgezeichneten Ortskenntnisse von Ernesto und angesichts der guten Wetterverhältnisse, alle Aufnahmen „im Kasten“.