Obwohl ich seit Ende der 70er Jahre häufiger in Lateinamerika zu tun hatte, ergab sich erst relativ spät die Gelegenheit, Chile kennen zu lernen. Zwar interessierte ich mich für dieses lange und zugleich so schmale Land am Rande des Pazifiks, das aufgrund seiner Ausdehnung von 4500 km nur selten auf einem einzigen Kartenblatt erscheint. Aber lange Zeit schickte mich einfach niemand mit einer spannenden Aufgabe dort hin. Dies sollte sich Mitte der 90er Jahre ändern, als die TU Berlin, an der ich damals noch beschäftigt war, mit der elften Region Chiles einen Kooperationsvertrag unterzeichnete. Eine der von uns zu lösenden Aufgaben bestand darin, eine Generalinventur der natürlichen Ressourcen, also eine komplette Bestandsaufnahme der Vegetation, des Wasserhaushalts einschließlich der Schnee- und Eisbedeckungen der Anden, der agrarischen Nutzung sowie der Besiedlung vorzunehmen – mit anderen Worten: die Aufgabe für einen Geographen! Dass die Chilenen überhaupt Interesse an solch einer Exploration hatten, hing nicht zuletzt mit dem Demokratisierungsprozess zusammen, der nach dem Ende der Diktatur 1990 einsetzte und sich zugleich mit einer Dezentralisierung des Staates verband. Dies betraf auch die Gemeindeverwaltungen, die „municipalidades“, die nunmehr verschiedene Angelegenheiten eigenverantwortlich zu regeln hatten. Dazu gehörte auch, auf der Grundlage von aktuellen Wirtschaftsdaten Programme zur Wirtschaftsförderung der Gemeinden zu erstellen. Doch die letzte chilenische Bestandsaufnahme lag mehr als 40 Jahre zurück! Eine Generalinventur unter Einschluss der natürlichen Ressourcen war daher das Gebot der Stunde – und zugleich eine immense Aufgabe, denn die elfte Region umfasst eine Fläche von ca. 125 qkm, was etwa der Größe der fünf neuen Bundesländer entspricht. Wir entschlossen uns daher, einen Großteil der benötigten Satellitenphotos bei einer amerikanischen Firma zu kaufen und sie computergestützt auszuwerten. Lediglich die Inventarisierung der Besiedlung sollte auf der Grundlage von Luftbildaufnahmen erfolgen. Und um diese aufzunehmen, begab ich mich Anfang März 2001 nach Südchile.
Wenn alles nach Plan geht, braucht man etwa 48 Stunden, um von Berlin nach Coihaique zu gelangen, jene kleine Stadt von etwa 36.000 Einwohnern, die sich zwischen dem 45. und dem 46. Grad südlicher Breite an den Rand der auslaufenden Anden schmiegt und von der aus ich meine Unternehmung starten wollte. Damit gestaltete sich schon die Anreise als Abenteuer, denn das Flugzeug braucht allein bis Santiago de Chile dreizehn Stunden. Dort wechselt man noch einmal die Maschine oder muss sogar einmal zwischen übernachten, um in drei weiteren Flugstunden nach Puerto Montt befördert zu werden.
Puerto Montt ist eine jener südchilenischen Hafenstädte, in der Mitte des 19. Jahrhunderts die ersten deutschen Auswanderer strandeten (exakt sollen es 252 Personen gewesen sein), um nach Wochen strapaziöser Seefahrt ihr Glück zu versuchen und in der Regel auch zu machen. Von Puerto Montt bis nach Balmaceda, dem nationalen Flughafen der elften Region, sind es dann noch einmal gut 500 km. Mit dem Flugzeug lässt sich diese Entfernung zweimal täglich überwinden, und wenn man konkrete Termine hat, sollte man diese technische Errungenschaft auch nutzen. Denn das am meisten gebrauchte Verkehrsmittel Chiles, der Bus, eignet sich im Grund nur für Leute mit sehr viel Zeit. Selbst mit dem Auto bräuchte man mehrere Tage, da die tief ins Land einschneidenden, breiten Fjorde eine durchgehende und schnelle Straßenverbindung unmöglich machen. Fast unnötig zu erwähnen, dass weder die zehnte noch die elfte Region über eine Eisenbahnlinie verfügen. Zur Zeit endet die Trasse in Temuco, in der neunten Region. Allerdings hat das Eisenbahnfahren in Chile ohnehin seinen Charme verloren, seit an die Stelle des „Rapido de la Frontera“ ein neuer japanischer Schnellzug getreten ist. Der „Rapido“ wurde 1928 bei Hoffmann, Linke und Busch in Breslau gebaut, und bis 2003 schaukelte er seine Passagiere sanft, manchmal aber auch nicht ganz ungefährlich, weil weit sich neigend, von Temuco in die chilenische Hauptstadt. Ein unvergessliches Erlebnis, wie wir es noch 1996 erleben durften.