Von Buenos Aires nach Córdoba
Cordoba, 22. Jan. 1989
Liebe Freunde,
Am vergangenen Mittwoch bin ich von Buenos Aires hierher nach Cordoba mit dem Zug gefahren. Auf der argentinischen Landkarte ist das eine unbedeutende Entfernung, in Wirklichkeit aber verbergen sich dahinter 770 km bzw. 12 Stunden Zugfahrt mit dem El Norteño, der von hier aus noch weiter in den Norden, bis nach Tucuman führt
Mit dem Erwerb einer Fahrkarte kauft man in Argentinien zwar grundsätzlich einen reservierten Sitzplatz. Doch als ich in Buenos Aires den Bahnsteig betrete, wird der Zug, noch ehe er zum Stillstand kommt, von einer Familien gestürmt, die einen Sitzplatz ‚erobert‘ und die Oma darauf setzt. Dann beginnt ein langes, herzliches Verabschieden; es werden noch Taschen, Pakete und Grüße auf den Weg gegeben, und auch mir trägt man auf, gut auf die Oma aufzupassen, die nach San Fransisco reist, ein winziges Städtchen zwischen Cordoba und Rosario. Die Lokomotive hupt, der Zug setzt sich unendlich gemächlich in Bewegung; währenddessen springen noch Leute ab, die ihre Freunde und Verwandten verabschiedet haben. Nach einer Stunde dahinschleichender Fahrt durch die unendlich vielen Vororte der 14 Millionenstadt Buenos Aires rumpelt der Zug schließlich hinaus auf die gewaltige Weite der Pampa humeda (feuchte Pampa). Das Grün der verstreut liegenden kleinen Wäldchen und Gebüsche lockert die riesigen Felder mit Kartoffeln, Sonnenblumen, Mais oder Getreide so auf, dass sie nicht monoton wirken. Hin und wider huschen wir an winzigen Dörfern mit gigantischen Getreidesilos und klitzekleinen Bahnhöfen vorbei, wo immer ein paar Leute gemütlich beim Bahnhofsvorsteher unter dem schattenspendenden Bahnsteigdach sitzen, dort ihre Siesta verbringen und dem einmal am Tag vorüberziehenden Expresso zuwinken. So fährt der Zug stundenlang ohne Halt.
Hinter Rosario, der zweitgrößten Stadt Argentiniens, wird die Pampa trockener. Siedlungen sind noch seltener geworden. Der Wind dreht über dem ausgetrockneten Boden riesige rotbraune Staubwirbel hoch in die Luft, während von Ferne ein tiefschwarzes Gewitter heranzieht.
In der Zwischenzeit hat die Oma ihren halben Keksbestand an mich abgetreten und eine Familie aus Tucuman schiebt mir eine gebratene Hühnerkeule mit Brot und Salat zu. Dafür setze ich der Großmutter meinen Walkman mit Bachs Brandenburgischen Konzerten auf, wovon sie so entzückt ist, dass sie ihren Enkeln wahrscheinlich noch viele Jahre von dieser Reise erzählen wird.
Und dann, hinter San Fransisco, entlädt sich urplötzlich das gewaltige Gewitter, das sich die ganze Zeit herangeschlichen hat. Tischtennisgroße Hagelkörner hämmern ohrenbetäubend auf den Zug ein, so dass man Angst haben muss, die Scheiben zerspringen. Auf der Weide rast eine wildgewordene Rinderherde mit ganz erstaunlicher Geschwindigkeit neben dem Zug her, um unter einem Gebüsch Schutz zu suchen. Doch genauso plötzlich, wie das Spektakel begann, ist es auch wieder zuende, und die noch verbleibenden 200 km rumpelt der Zug der roten Abendsonne und Cordoba entgegen.
Hier auf dem Bahnhof muss ich mein Taxi dann allerdings selber anschieben, weil es nicht anspringt. Was für ein Land! Aber es ist ein Land mit freundlichen und hilfsbereiten Menschen, was einem Wahlberliner natürlich sofort auffällt. Und es sind Eigenschaften, die ansteckend wirken …
In diesem Sinne grüße ich Euch herzlich,
Euer Christoph