Zusammenfassung
Grenzsignaturen auf Geschichtskarten simulieren durch ihr Erscheinungsbild Eindeutigkeit und Klarheit, hinsichtlich ihres Verstehens bereiten sie jedoch didaktische, methodische und wahrnehmungspsychologische Probleme. Aufgrund ihres sachlichen und gestalterischen Konstruktcharakters visualisieren sie zwar lagegetreu zeittypische Grenzverläufe und Raumsituationen, können aber die in ihnen verdichtete Geschichte nicht erzählen. Das trifft auch auf Geschichtskarten über die deutsche Zweistaatlichkeit zu. Auf Grund perspektivischer Intentionen von Kartenautoren und der generalisierten Ausdrucksformen für Grenzdarstellungen werden zeitliche und qualitative Phänomene zu inhaltlichen und graphischen Abstrakta. Die erfolgreiche Dekonstruktion und Interpretation von Grenzen und Grenzsituationen ist abhängig vom Vorwissen, von medialen Kontexten aber auch von der kartenkritischen Kompetenz der Kartennutzer. Durch die Einbeziehung der Ergebnisse der Karteninterpretation in historische Sinnbildungsprozesse besteht die Chance, dass kartenähnliche Strukturen im Sinne von Mental Maps internalisiert werden.
Der Erinnerungsort der deutsch-deutschen Grenze
Seit nunmehr zwei Jahrzehnten ist die Spaltung Deutschlands vergangen, als Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses der Deutschen ist sie jedoch nach wie vor präsent. Die Erinnerung an die deutsche Teilung, die Zweistaatlichkeit und die Wiedervereinigung wird nunmehr durch wissenschaftliche und politische Aufarbeitung aber auch durch eine Fülle von geschichtskulturellen Aktivitäten geprägt. Ein beredtes Zeugnis dafür ist die aktuelle Debatte um Sinn und Form eines für Berlin und Leipzig geplanten Vereinigungsdenkmal.
In der heutigen Landschaft sind der Verlauf der ehemaligen 1378 km langen innerdeutschen Grenze und die Berliner Mauer selbst von Ortskundigen kaum noch auszumachen. Die Grenzareale sind beräumt, überbaut, renaturiert oder traditionellen Nutzungsformen zugeführt. Alte Infrastrukturen wurden wieder hergestellt, neue geschaffen. Das so genannte 1393 Kilometer lange „Grüne Band“ von der Ostsee über Elbe, Harz, Rhön und Thüringer Wald bis nach Bayern deutet im Sinne eines ökologischen Flächendenkmals auf den früheren Grenzverlauf. Einstige Kolonnenwege der Grenzeinheiten der Nationalen Volksarmee der DDR wurden zu Erlebnisrouten gestaltet, die von zahlreichen restaurierten Grenzsteinen aus der jüngsten zweitstaatlichen Grenzzeit und früheren „kleinstaatlichen Grenzzeiten“ gesäumt sind. In exemplarisch erhaltenen und restaurierten DDR-Grenzwachtürmen (Abb.2) wird den Besuchern die Möglichkeit eingeräumt, sich an Bildern, Plänen und Sachquellen über die vergangene Grenzgeschichte zu informieren und aus Beobachtungsluken die „heutige Grenzlandschaft“ in Augenschein zu nehmen. Die in historisch kurzer Zeit nahezu verschwundene Grenze lässt sich nur noch punktuell an geschichtsträchtigen Landmarken oder über Musealisierungen festmachen. Nahezu deckungsgleich zur vormaligen Grenze verlaufen nunmehr die Grenzen der Bundesländer. Die Zeichen der „neuen Grenzzeit“ sind die Landeswappen und Namensschilder der jeweiligen Bundesländer an Bundesstraßen oder Autobahnen.
Geschichtskarten als Erinnerungsorte
Trotz aller Aktivitäten und Bemühungen werden die Spuren der deutschen Teilung nicht nur in der Landschaft sondern auch in den Köpfen der nachfolgenden Generationen verblassen. Geschichtskarten hingegen bleiben zuverlässige Erinnerungsorte für die deutsch-deutsche Zweistaatlichkeit. Im Gegensatz zu anderen Medien oder Präsentationen, die nur Teile und Einzelstrukturen der Geschichte der deutschen Zweistaatlichkeit darstellen können, präsentieren Geschichtskarten gleichsam als Ikonen diesen Teil der deutsch-deutschen Vergangenheit auf einen Blick. Sie verleihen den Einzelaspekten eine ganzheitliche Präsenz. Über die eingängigen Synopsen von Kartenbildern kann die vierzig Jahre währende deutsche Zweistaatlichkeit komplex erfasst werden.
Geschichtsatlanten besitzen hinsichtlich dieser Komplexität eine besondere Eignung. Sie vermögen die Entwicklungen der deutschen Nachkriegszeit über ihre kartographischen Kontexte in übergreifende kontinentale und weltgeschichtliche Zusammenhänge zu stellen. Die Mehrzahl der aktuellen Geschichtsatlanten verfügt neben dem Register zusätzlich über nichtkartographische Informationsteile wie Sachtexte, Zeittabellen, Statistiken und Schaubilder. Durch diese kohärente Gestaltung werden Aussagekraft und Erkenntnispotential der einschlägigen Atlaskarten zur deutschen Zweistaatlichkeit beträchtlich erhöht. Es sind jedoch nicht nur traditionelle Geschichtskarten, die den Bezug zur jüngsten deutschen Zeitgeschichte besitzen und auf deren Bedeutung verweisen, sondern in wachsendem Maße auch digitale und multimediale Karten- und Raumpräsentationen. Eine herausragende Rolle nehmen hier historische Geoinformationssysteme (GIS) mit ihrem scheinbar unbegrenzten Informationspotential ein. Mittels ihrer hypermedialen Visualisierungsstrategien vermögen sie es, die deutsche Teilungsgeschichte über Karten räumlich und zeitlich zu dokumentieren, aber auch virtuell „begehbar und erlebbar“ zu machen.
Die deutsch-deutsche Grenze als didaktisches Problem Grenzfestlegungen, Grenzüberschreitungen und Konflikte um Grenzen lassen sich anhand von kartographischen und verbalen Beschreibungen quellenmäßig bis in frühgeschichtliche Kulturen zurückverfolgen. Begriffsgeschichtlich und typologisch lassen sich Grenzen nach ihrer Entstehungsgeschichte und Bedeutung klassifizieren. Man unterscheidet Erschließungsgrenzen (frontier), nationalstaatliche Territorialgrenzen (border) und Grenzräume. Grenzdarstellungen auf Karten sind durch zeitrelevante politische, wissenschaftliche und kartographische Positionen, aber auch Perspektiven geprägt. Diese müssen nicht mit der zeitgenössischen Grenzwahrnehmung übereinstimmen. Dieser Aspekt ist sowohl beim Umgang mit Geschichtskarten, aber auch bei der Benutzung von Historischen Karten zu beachten. Grenzlinien sind sachlich und darstellerisch generalisierte Konstrukte. Demgemäß speichern sie eine Fülle von räumlichen, zeitlichen und sachlichen Informationen zur Grenzgeschichte und werden damit zu deren Narrativ. Demzufolge geht es beim „Lesen“ und Verstehen dieser Geschichte um Dekonstruktions- und Interpretationsarbeit. Das Verstehen der Karten und die Sinnbildung über ihren Gegenstand bedingt die Einbeziehung von bereits vorhandenen Deutungsmustern, vor allem jedoch das Einbeziehen mediale Kontexte. Für das Verstehen von Grenzzeiten sind insbesondere Quellen über die zeitgenössische Grenzwahrnehmung, das Wissen um das Image der Grenze und die jeweilige Grenzpraxis von grundlegender Bedeutung. Daher empfiehlt es sich, auf einschlägige historische Darstellungen, schriftliche Quellen, chronologische Übersichten, zeitgenössische Bild-, Film und Tonquellen, Zeitzeugenerinnerungen, aber auch Kartenquellen zurückzugreifen. Eine unverzichtbare Quelle ist die „vergangene Grenzlandschaft“ selbst. Bei hinlänglicher Sachkunde enthüllt sie ihre Grenzspuren und damit ihre Geschichte über den Augenschein. Erstaunliche Einsichten in den zeitgenössischen Grenzalltag und dessen Wandel eröffnet die Grenzrhetorik. In der Grenzzeit geprägte und benutzte Begriffe werden zum Spiegel der aus unterschiedlichen Perspektiven erlebten Grenzgeschichte: Demarkationslinie, Grenzschild, Schlagbaum, Zonengrenze, Interzonengrenze, Grenzausbau, Staatsgrenze, Antifaschistischer Schutzwall, Eiserner Vorhang, Grenzgänger, Republikflüchtling, Grenzverletzer, Grenzposten, Grenzübergang, Grenzkontrolle, Passierschein, Interzonenzug, Sperrgebiet, Grenzwachturm, Grenzbefestigungsanlage, Grenzsoldat, Grenzdurchbruch Grenzverletzung, Grenzzwischenfall, Bundesgrenzschutz, Grenzabkommen… Die zeittypischen Wortschöpfungen verweisen zum einen als Begriffsbezeichnungen auf formale Sachen (Grenzschild), zum anderen sind sie als begriffliche Narrative verbale Verlaufsgeschichten (Grenzdurchbruch). Mit dem Ende der Zweistaatlichkeit endet auch deren typische Sprache.
Die Grenzerinnerung führt zu einer neuen Grenzrhetorik
Mauerfall, Grenzöffnung, Grenzrückbau, Grenzlandmuseum, Grenztourismus… Das Verstehen und das kritische Bewerten von Grenzen auf Karten erfordern neben dem Sachwissen zur Grenzgeschichte auch Grundkenntnisse über die Möglichkeiten der Abbildbarkeit von Grenzen auf Karten und die von Grenzlinien ausgehenden Wirkungen. Generell sind Kartengrenzen, besonders jene auf Geschichtskarten, dominierende Sichtachsen, die den jeweiligen Territorien ihr typisches Gepräge verleihen. Im Gegensatz zu sprachlichen Ausdrucksformen erfolgt die „kartographische Grenzrhetorik“ durch lineare Signaturen, Flächen, Namen, Begriffe und Jahreszahlen. Eine geschlossene, gerissene, punktierte oder strichpunktartige Zeichnung von Grenzlinien signalisiert thematische Differenzierungen oder die Bedeutungsschwere des dargestellten Grenzphänomens. Grenzlinien schließen Territorien ein- oder aus und konturieren sie. Für den Kartennutzer können Territorien mit denen sie sich verbunden fühlen das Selbstverständnis „Das sind wir“ oder „Das sind die Anderen“ simulieren und somit zu Bausteinen kollektiver Identität werden. Die durch Grenzen geschaffenen typischen Raumfiguren tragen letztendlich dazu bei, dass sich historische aber auch aktuelle Räume einprägen und zu „Erinnerungsbildern“ werden können. Trotz dieser differenzierten Darstellungspraxis sind die sachlichen Aussagemöglichkeiten von Grenzlinien beschränkt, sie visualisieren zwar zeittypische Grenzsituationen, über die Mikrogeschichte von Grenzlandschaften und den Gesellschaften hinter der Liniensignatur und den durch sie konturierten Räumen erzählen sie nichts.
Die psychologische und methodische Dimension
Das Typische an Grenzlinien sind Klarheit und Konkretheit. Diese Vorzüge finden allerdings in der historischen Realität von Grenzverläufen kaum ihre Analogie . Aus dem eindeutigen Erscheinungsbild von Grenzlinien schlussfolgern Kartennutzer vorschnell auf deren Bedeutungs- und Erzählsinn. Wohlwollend verweisen sie auf die Kompetenz des Kartenmachers, dass er ausgehend von statistischen und wissenschaftlichen Daten die Geschichte im Kartenbild wis-senschaftlich und wertfrei auf den Punkt, in diesem Falle auch auf die „Linie“ gebracht habe. Dieses typische Verhaltensmuster der Kartennutzer verleiht den Karten generell und den Geschichtskarten im Besonderen das Image hoher Objektivität und Glaubwürdigkeit. Legt man diesen Wertmaßstab der Grenzlinie der gewählten Beispielkarte (vgl. Abb. 1) zu Grunde, taucht eine Reihe von Problemen auf, die dieses positive Image von Karten ins Wanken bringt. Im optischen Zentrum der besagten Karte steht die Grenzlinie, die die deutsch-deutsche Grenze signalisiert. Für die gesamte Kartenzeit erfährt diese Linie formal keine Veränderung. Lediglich einige kaum wahrnehmbare Ziffernverweise für Grenzübergänge und eine sehr auffällige Bandkontur für das Gebiet des grenznahen Verkehrs schaffen eine gewisse Irritation. In optischer Hinsicht dominiert für vierzig Jahre deutsch-deutscher Grenzgeschichte eine „immerwährende“ Konstanz und Gleichförmigkeit aus.
Die Grenzrealität war bekanntlich eine grundlegend andere. Im Kontext von Kaltem Krieg und politischem Selbstverständnis baute die DDR in diesen vierzig Jahrzehnten die vorerst nur markierte Demarkationslinie zwischen der ehemaligen sowjetischen Besatzungszone und der amerikanischen und britischen Besatzungszone zu einer 1378 Kilometer langen festungsartigen Grenzsperranlage aus. (Vgl. Abb. 4 ) Die einstigen Sektorengrenzen zwischen Berlin Ost und Berlin West wurden durch die 155km lange festungsartige „Mauer“ verbaut.
Diese, sogar durch zeitgenössische Satellitenaufnahmen belegte Linearität der Grenzsperren, führte zu dem kartographischen Sonderfall einer weitgehenden Analogie zwischen dem linearen Kartenzeichen und der räumlichen Realität. Dass die deutsch-deutsche Grenze auf der Atlaskarte allerdings als gerissene Linie dargestellt ist, führt selbst erfahrene mit dieser Geschichte allerdings nicht mehr biografische verbundene Kartenleser zu erheblichen Irritationen. War die Grenze nun eine Staatsgrenze oder nicht? Konnte man diese von West nach Ost oder umgekehrt an den markierten Übergängen passieren?… Diese Probleme sollen im kartenhistorischen Kontext erneut aufgegriffen werden.
Kartennutzer können die Grenzsignaturen durchaus wahrnehmen, lokalisieren und hinsichtlich ihres Verlaufs beschreiben. Eine Erzählung können sie aber weder der Signatur noch der Karte entlocken. Diese „Sprachlosigkeit “ kann das Interesse an der jeweiligen Kartenarbeit erheblich beeinträchtigen.
Um Geschichtskarten verstehen zu können, bedarf es neben hinlänglichen thematischen Sachkenntnissen und Kontexten vor allem kartenspezifischer Qualifikationen. Um diesen Anspruch geht es in der gegenwärtigen noch recht diffus geführten geschichtsdidaktischen Kompetenzdebatte. Grundsätzliche Richtwerte sollten sein, dass Schülerinnen und Schüler die medialen Besonderheiten von Ge-schichtskarten und Historischen Karten kennen, grundlegende Schritte der Karteninterpretation beherrschen und über die Möglichkeiten und Grenzen der Aussagekraft von Karten Bescheid wissen. Diese Qualifikationen, die mit den einschlägigen Leistungen des Sachunterrichts und des Geografieunterrichts korrespondieren, bilden die Voraussetzung für eine erfolgreiche Kartenarbeit im Geschichtsunterricht und letztendlich auch dafür, dass die Geschichte der deutschen Zweistaatlichkeit auf Karten verstanden und im Gedächtnis verortet werden kann.
„Das geteilte „Deutschland“ – ein kartengeschichtlicher Exkurs
Die „Deutsche Frage“ gehörte seit den 1950er Jahren zum thematischen Grundbestand deutscher Schulgeschichtsatlanten. Entlang der Abfolge einschlägiger Kartenbilder und der jeweiligen zeittypischen Gestaltungspraxis lässt sich die Wahrnehmung der deutschen Teilung partiell nachzeichne
Anders als in der schwer steuerbaren Alltagsgrenzrhetorik wurde von den Autoren der Deutschland- oder Mitteleuropakarten zeitgemäße Korrektheit bezüglich der Grenzzeichnung, Farbgebung und der Handhabung von territorialen Bezeichnungen erwartet.
Der jeweilige Wandel in Kartendarstellungen deutet sowohl auf das seismographische Gespür seiner Autoren für Veränderungen des politischen Klimas der deutsch-deutschen Beziehungen als auch auf deren Kompetenz, verbindliche Festlegungen gestalterisch umsetzen zu können. Zu diesen grundlegenden Rahmenregelungen zählen: Die Beschlüsse der Potsdamer Konferenz von 1945, Positionen des Grundgesetzes zur Einheit Deutschlands von 1949, amtliche Festlegungen des Bundesministeriums für Post- und Fernmeldewesen von 1952, Bezeichnungsempfehlungen zum Darstellungs- und Sprachgebrauch durch den Verband der kartographischen Verlage und Institute und dem Verband der Schulbuchverlage sowie die jeweiligen Empfehlungen und Beschlüsse die Kultusministerkonferenzen zur Darstellung der innerdeutschen Grenze und der Handhabung von Bezeichnungen und Abkürzungen.
In Konsequenz der neuen Ostpolitik hob das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen 1971 die bis dahin geltenden Karten- und Bezeichnungsrichtlinien auf. Nunmehr lag die Darstellungsstrategie in den Händen der Kartenredakteure und Kartenmacher, die sich allerdings nach wie vor an den Zulassungskriterien der jeweiligen Bundesländer für Schulbücher orientierten. Mit dem Einigungsvertrag und dem deutsch-polnischen Grenzvertrag 1990 wurde eine grundlegende kartographische Zäsur gesetzt, deren Wirkungen sich allerdings vorerst noch verhalten andeuten.
Wie sich diese Kartenpolitik in den jeweiligen historischen Kartenblättern niederschlug, soll aspektartig an historischen Putzger-Karten, die mittlerweile den Status von Quellen besitzen, belegt werden.
Im Jahr 1954 erschien nach langer Pause die 63. Ausgabe des Putzgers. Diese erste Nachkriegsausgabe enthielt eine doppelseitige Karte mit dem Titel „Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg“ auf deren Grenzkonzept die einschlägigen Deutschland- und Mitteleuropakarten bis 1978 basierten. Es handelt sich dabei um das Territorium des Deutschen Reiches in den Grenzen vom 31.12. 1937 in blauer Flächenfarbe und roter Grenzkontur. Eine breite hellrote Linie steht für die „Grenze zwischen der Bundesrepublik und der Sowjet. Bes. Zone“ (sic), hellrot sind die „Grenzen von Besatzungszonen und Verwaltungseinheiten“ markiert. Diese Kartendarstellung war aus damaliger bundesrepublikanischer Sicht darstellungspolitisch korrekt, da die Grenzen auf internationalem Recht und dem Grundgesetz basierten. Aus der DDR-Position war die Darstellung ein politischer Affront. Die DDR kam auf dieser Karte nicht vor. Auf den Nachfolgekarten wandelten sich Grenzdarstellung und territoriale Bezeichnungen:
92. Auflage (1970) „Grenzlinie zwischen den Westzonen und der Sowjetzone“; 94. Auflage(1972) Einführung der Kürzel „BRD“ und “DDR“; 100. Auflage(1979) rot gerissene Gestaltung der „Grenze zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratische Republik“.
In Konsequenz des Einigungsvertrages und der aktuellen wissenschaftlichen und politischen Debatte um den nationalen Stellenwert der deutschen Teilung lassen sich nunmehr erste Veränderungen in der Bezeichnung des Kartenthemas ausmachen. Im Kartenband der 103. Auflage, 1. Druck, lautet der Titel der Karte nunmehr „Das geteilte Deutschland 1949 bis 1989“.
Die über fünfzigjährige Geschichte des Kartenblattes belegt, dass Grenzthemen und nationale Erscheinungsbilder auf Geschichtskarten ein hohes Maß an politischer und demgemäß bildungspolitischer Aufmerksamkeit auf sich zogen. In diesem Sinne sind jene Grenzdarstellungen und deren kartographische Rhetorik gleichsam historische Rückspiegel und aussagekräftige Quellen für zeitgeschichtliche Perspektiven der Nachkriegszeit, des Kalten Krieges, der sich Ende der 1960er Jahre andeutenden politische Entspannung und letztlich der staatsrechtlichen Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990. Selbst den Signaturen für die innerdeutsche Grenzlinie fällt ein gewisser Quellenstatus zu. Ihre aktuelle Version, die rote gerissene Linie, war weniger eine kartenästhetische Entscheidung als ein politisches Programm. Der Kartenmacher signalisierte als Postulat: „Die Grenze bleibt offen!“ Seine Prognose erwies sich aus heutiger Sicht als realistisch.
Die Interpretationchancen der innerdeutschen Grenzkontur
Die Kartenpraxis belegt, dass die Interpretation von Geschichtskarten alles andere als ein linearer und überschaubarer Prozess ist. De facto gestaltet sich der Weg zum Verstehen von Karteninhalten als eine nahezu unabschließbare Unternehmung. Wie auch immer dem jeweiligen Erkenntnisinteresse nachgegangen wird, fällt dem Kartentitel die grundlegende Aufgabe zu, der Generalwegweiser für den dargestellten Gegenstand, dessen räumliche und zeitliche Dimension zu sein. Der Titel „Bundesrepublik und DDR von 1949 bis 1989“ aber auch dessen Nachfolger „Das geteilte Deutschland von 1949-1989“ verheißen die nicht einlösbare Ansage, über vierzig Jahre deutsche Teilung über ein Kartenbild erzählen zu wollen. Folgt man der Zeichenerklärung, wird die Zeitdimension durch die Erläuterungen „Grenze von Berlin nach dem Viermächtestatut bis zum 3. Oktober 1990, Grenze zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik bis 3.10.1990“ sogar auf sechsundvierzig Jahre erweitert.
Die „deutsche Grenzlandschaft“ auf der Karte begegnet dem Kartenleser über sieben Grenzlinien: durchgezogen, gerissen, schmal, fett, rot, grau und braun. Je nach Bedeutungshierarchie handelt es sich um: die Grenze zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik, die Grenze von Berlin nach dem Viermächtestatut von 1945, die Grenze zwischen Berlin (West) und Berlin (Ost), Ländergrenzen in der Bundesrepublik Deutschland, Bezirksgrenzen in der DDT (1952-1990), Gebiet des grenznahen Verkehrs (1973-1989) und die Westgrenze Polens nach den Verträgen mit DDR(1950) und Bundesrepublik Deutschland (1970).
Die Bedeutungsschwere der roten gerissenen Grenzlinie zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik ist relativ prägnant, sie zieht den nach Orientierung suchenden Blick auf sich. Sie erhält allerdings durch die Kontur des „Gebietes des grenznahen Verkehrs“ eine nahezu gleichrangige optische Konkurrenz und damit auch eine gleichrangige Bedeutung.
Der Sinn der spezifischen innerdeutschen Grenzsituation eröffnet sich heutigen Kartennutzern nur schwer. Die gerissene rote Grenzkontur, die achtzehn verhalten markierten Grenzübergänge sowie das „Gebiet des grenznahen Verkehrs“ erwecken zwar den Anschein von Durchlässigkeit, das Fehlen jeglicher Verkehrsinfrastrukturen und die Siedlungsleere des Grenzgebietes widersprechen jedoch diesem Eindruck grundlegend.
Die Komplexität der Karte erfordert eine aufwändige zeitliche aber auch sachliche Dekonstruktion. Damit deutet sich an, dass der Erfolg von Karteninterpretation und das Verstehen der Kartenaussage erheblich von der Einbeziehung von Medien zur Informationserweiterung abhängig sind.
So ginge es grundlegend um eine orientierende sachliche und chronologische Überschau. Hier bieten sich die einschlägige Fachliteratur aber auch Präsentationen des Internets an. Exemplarisch sollen einige grundlegende zeitliche Zäsuren angemerkt werden:
Zur Geschichte der deutsch-deutschen Grenze
- 1945
- Potsdamer Konferenz endgültige Festlegung der Demarkationsli-nien der 4 Besatzungszonen, Sonderstatus für Berlin
- 1946-1949
- schrittweise Sperrung der Zonengrenzen, Setzen von Schlagbäumen
- 1946
- Interzonenpässe für Besuche erforderlich
- 1947
- SBZ: Kontrolle durch bewaffnete Grenzkommandos
- 1948
- Währungsreformen in den Westzonen, nachfolgend in SBZ
- 1949
- Gründung der BRD, nachfolgend Gründung der DDR
- 1951
- BRD: Aufbau des Bundesgrenzschutzes – DDR: Aufbau der DDR-Grenzpolizei, 1952 dem Ministerium für Staatssicherheit unterstellt; Grenzverkehr nur noch mit Genehmigung an wenigen Stellen möglich
- 1961
- Beginn und stetige Fortsetzung des Ausbaus der Grenzsperranla-gen an der gesamten deutsch-deutschen Grenze; grenzüberschreitende Verkehrswege werden bis auf wenige offizielle Übergänge unterbrochen, alle Reisetätigkeit erfährt gravierende Einschränkungen und Behinde-rungen.
- 9. November 1989
- Öffnung der Grenze in Berlin, an den Nachfolgenden tagen werden an vielen Stellen der Grenze Übergänge geöffnet.
Zur räumlichen Konkretisierung des Grenzverlaufs könnten aktuelle und historische, topographische Darstellungen benutzt werden, um die Grenze jedoch zu verstehen, muss die stumme Signatur über zeitgemäße Bilder, Filme, Tonquellen, Zeitungsquellen und über die „Grenzgeschichten“ von Zeitgenossen zum Sprechen gebracht werden. Die Fülle der dazu verfügbaren Materialien ist mittlerweile kaum noch zu übersehen. Zu beachten ist, dass heutige Erinnerungen von Zeitzeugen die erlebte Grenzzeit und die Grenzöffnung nicht authentisch wiedergeben können, sondern dass diese, gebrochen durch Zeitdistanz und die individuellen Biographien, Produkte von Erinnerungskultur sind. Für das Verstehen der innerdeutschen Grenze sind sie jedoch vorzügliche aber dennoch quellenkritisch zu behandelnde Quellen. Dass Geschichte durch die Erinnerungen von Zeitzeugen differenziert, lebendig wird und neben der sachlichen auch eine emotionale Dimension besitzt, belegt der nachfolgende Auszug.
Kerzen im Stacheldraht
Mein Gott ist das kalt und dunkel, denke ich ärgerlich. Wäre ich doch nur zu Hause geblieben. Die ganze Demonstration würde nichts bringen. Was kümmert sich die Obrigkeit darum, wenn am Grenzzaun eine Menge Menschen stehen… Mittlerweile sind etwa 500 Leute da. Es werden ständig mehr. Alles Nachbarn und Bekannte. Sie lächeln, wirken hilflos. Auf einmal kommt ein Auto, hält mit quietschenden Bremsen. Ein kleiner dicklicher Mann steigt aus und bahnt sich einen Weg durch die Menge. Am Zaun postiert er sich. Er spricht mit piepsiger Stimme: Beruhigt Euch, geht nach Hause. Die Leute werden unruhig. Einzelne Zurufe werden laut: Öffnet den Zaun. Dann wieder der Mann: Ich kann nichts entscheiden. Bewegung kommt in die Menge. Alles drängt nach vorn. Wir werden einfach mitgerissen. Der Kleine schiebt sich ängstlich zu seinem Auto und braust davon. Wenig später baut sich die Armee hinter dem Zaun auf. Die Gesichter der Posten sind verschlossen. Sie haben Pistolen an den Gürteln, aber auch die können die Mengen nicht mehr aufhalten. Die Euphorie steckt alle an. Ich stehe ganz dicht am Zaun. Er hat seinen Schre-cken verloren. Brennende Kerzen stecken im Stacheldraht. Die Menge drängt sich gegen den Zaun. Das Tor schwankt hin und her. Ein Mann klettert am Zaun hoch und reißt die Elektrodrähte ab. Die Menge tobt. Auf einmal wird eine Bolzenschere über die Köpfe gereicht. Rufe:Schneidet den Zaun auf! Plötzlich Stille: Wir haben ein Loch in den Zaun geschnitten. Seid vorsichtig, immer einer nach dem anderen. Dann geht alles ganz schnell. Jemand hebt mich über den Zaun, und ich bin drüben. Ich kann es einfach nicht fassen, ich bin einfach glücklich…“. (Auszug aus der Erinnerung der Schülerin Doreen Dahms im Jahr 1992, damals 16 Jahre alt )
Zur Öffnung der Grenze am 9. November 1989 schweigt die Atlaskarte, ebenso zum ereignisreichen Geschehen danach. An diese Geschichte könnte man sich beispielsweise über eine andere Karte annähern, die auf einem historischen Foto zu sehen ist. Obwohl es den meisten Menschen in der DDR im November –Dezember 1989 noch um eine grundlegende Reformierung der DDR ging, gewannen zunehmend auch Kartenbilder an Bedeutung, die auf zukünftige Entwicklungen orientierten. Die auf dem Poster gezeigte Deutschlandkarte lässt in ihrer gerissenen weißen Grenzgestaltung für den heutigen Betrachter eine erstaunliche Ähnlichkeit zur Grenzdarstellung der behandelten Putzger-Karte erkennen. Der „Kartengestalter“ kannte jene Atlaskarte sicher nicht, aber seine Botschaft „Die Grenze soll verschwinden“ wurde ebenso wirkungsmächtig wie die Prognose der Grenzsignatur der Putzger-Karte „Die Grenze bleibt offen!“.
Schlussbemerkungen
Geschichtskarten verfügen über drei spezifische Potenzen, die für den Umgang und das Verstehen von Geschichte maßgeblich sind: Als zeichensprachliche Raumvisualisierung sind sie Orientierungshilfen, Informationssysteme und historische Narrative. Während die Orientierung auf der Karte, die Dekodierung ihrer Zeichen und die Informationserhebung sowie analytische und synthetische Verfahrensweisen relativ problemlos zu lösen sind, ergeben sich für das Verstehen von Geschichtskarten und die damit verbundene Sinnbildung erhebliche kognitive und pragmatische Ansprüche. Geschichtskarten und einzelne Strukturen auf diesen Karten, so auch Grenzen, erfordern Vorwissen und kön-nen nur durch mediale Kontexte zum „Sprechen“ gebracht werden. Erst konkrete und möglichst auch personalisierte Details ermöglichen, das den Karten innewohnende Narrativ zu entfalten.
Der Arbeits- und Zeitaufwand für eine anspruchsvolle Karteninterpretation ist daher erheblich, aber dennoch gerechtfertigt, denn erst durch diesen Interpre-tationsprozess erhält sie ihre thematische Tiefenschärfe. Letztendlich ergibt sich der Gewinn, dass diesem Sinnbildungsprozess zugrunde gelegte Karten zu einem mehr oder weniger konsistenten Bestandteil der „mentalen Kartothek“ des Karteninterpreten werden können. ( Abb.4 ?)
Damit ergibt sich für das Problem der (Un)möglichkeit Grenzen auf Karten zu verstehen, eine positive Prognose.
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Putzger Historischer Weltatlas- Kartenausgabe, Berlin 2006, 103. Auflage 1. Druck.
Autoren
Dr. Christina Böttcher
Institut für Geschichte
Abteilung für Didaktik der Geschichte
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Hoher Weg 4
06120 Halle an der Saale
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