Nach Marokko, Rumänien und Moldawien sowie dem Iran unternahm der Freundeskreis der Prof. Dr. Frithjof Voss Stiftung vom 21. März bis 6. April 2019 seine 4. Geographische Länderexkursion für Mitglieder und an der Geographie Interessierte, dieses Mal in die nördliche Hälfte Chiles. Mit modernem Reisebus fuhren 17 Personen unter sachkundiger Führung des Physischen Geographen Prof. em. Dr. Wilfried Endlicher von der Humboldt-Universität zu Berlin über 3.000 km von der Hauptstadt Santiago de Chile bis nach Arica am Dreiländereck zu Peru und Bolivien, vom Pazifik über die Küstenkordillere, den Altiplano mit der trockensten Wüste der Welt, der Atacama, bis an den Rand der hier fast 7.000 m Höhe erreichenden Anden-Kordillere. Bereist wurden also einmal die Zentralzone, die zentrale Grabensenke (33-38°S), sodann der so genannte Kleine Norden, d.i. das Chile der Flussoasen (28-33°S), und schließlich der so genannte Große Norden, das Wüstenchile (17-28°S). Ausgespart blieben der so genannte Kleine Süden, also die Frontera und die Seenregion (38-42°S), und der so genannte Große Süden, mithin West-Patagonien und West-Feuerland (42-55°S). Den Beginn des Chile-Aufenthalts markierte der Besuch der dynamischen, geradezu explosiv anwachsenden Landeshauptstadt Santiago de Chile, die von sommertrockenem Subtropenklima geprägt ist. Von insgesamt 18 Mio. Chilenen leben in der Kapitale (2017) 5,2 Mio. in der área urbana und 7,1 Mio. in der Región Metropolitána. (Rund 850.000 Chilenen leben im Ausland, etwa die Hälfte davon in Argentinien.) Der moderne Teil der künftigen Mega-City ist von einer fast unübersehbaren Kette von Hochhäusern gekennzeichnet.
Es schlossen sich an die Schwestermetropolen Viña del Mar und Valparaiso: Die erste ein mit Ferien-Appartementhäusern nahezu gepflastertes Touristenzentrum, wo ein Bummel am Pazifikstrand erfreute; letztere Weltkulturerbe mit rund 1 Mio. Einwohnern, deren quirliger Pazifikhafen in der Unterstadt durch traditionelle Schrägaufzüge mit der Oberstadt verbunden ist. Der große chilenische Nationaldichter und Nobelpreisträger für Literatur, Pablo Neruda (1904-1973), schrieb in seinen Memoiren über Valparaiso: „Die Treppen beginnen unten und oben und winden sich steigend. Sie werden fein wie Haar, gewähren kurze Rast, sind steil. Werden seekrank. Stürzen vornüber. Breiten sich aus. Weichen zurück. Enden nie. Wie viele Treppen? Wie viele Treppenstufen? Wie viele Füße auf Stufen? Wie viele Jahrhunderte von Schritten, treppauf, treppab, mit dem Buch, den Tomaten, dem Fisch, den Flaschen, dem Wein? Wie viele Tausende von Stunden, die die Stufen abgenützt, bis sie Kanäle waren, in denen Regen rinnt, spielt und weint? Treppen!“ (Pablo Neruda: Ich bekenne, ich habe gelebt. Memoiren. 7. Aufl., Sammlung Luchterhand, München 2003, S. 81.) Auf der Busfahrt in den Kleinen Norden mit seinen Flussoasen wurde intensiv über die spezifische Vegetationsstruktur informiert und auf die Konvergenzen mit den Hartlaubgebüschen des europäischen Mittelmeerraums hingewiesen. Einen ersten Einblick in die präkoloniale Geschichte des Kleinen Nordens gewährte eine Wanderung durch den Parque Nacional de los Petroglifos (Valle del Encanto – Verzaubertes Tal) bei Ovalle, wo über die verschiedenen Interpretationen und Datierungen der dort vorfindlichen Steinzeichnungen und Steinlöcher der Molle-Kultur diskutiert wurde. Vom zentralen Ort des Kleinen Nordens, La Serena (rd. 420.000 Einw.), aus besuchte man den Fischereihafen der Nachbarstadt Coquimbo, wo gerade die Fischerboote vom Fang zurückgekehrt waren, und bewunderte die zutraulichen Pelikane und Seelöwen am Hafenbecken.
Die anschließende Fahrt in das fruchtbare Elqui-Tal mit seinem Staudamm stieß die Teilnehmer zum ersten Mal auf das zentrale Problem des nördlichen Chile, das Vorhandensein oder das Fehlen von Wasser, ohne das dort nichts „läuft“. Die üppigen Baum-, Gemüse-, Obst- und Weinkulturen (Tafeltrauben und Wein) des Tales verdeutlichen, was mit guten Bewässerungskulturen bei dem vorherrschenden Klima möglich ist. Im Ort Vicuña wurde eine Brennerei besichtigt, in der mit dem Weinbrand Pisco der Grundstoff für das chilenische Nationalgetränk, Pisco Sour, produziert wird – Verkostung eingeschlossen! Im Jahr 2016 entfielen lediglich 4% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) auf den Landwirtschaftssektor, in dem (2015) 10% der Erwerbstätigen beschäftigt waren. Zugleich lagen die Nahrungsmittel (vor allem Weintrauben, Weine und Fisch) mit 23% an dritter Stelle der Exportgüter, hinter Rohstoffen (33%) und Nichteisen-Metallen (25%).
Eine besondere Attraktion bot die Fahrt mit zwei Fischerbooten von Punta de Choros aus zu den Damas-Inseln im Pazifik, wo Kolonien von Humboldt-Pinguinen, Pelikanen, Albatrossen, Kormoranen, Seelöwen und Delphinen die Besucher begeisterten. Die Fahrt gab Gelegenheit zur Information über die ökologische Bedeutung des Humboldt-Stroms, seiner Nahrungskette sowie für Westeuropäer unbekannte Flora und Fauna. Zudem wurde aufgeklärt über die Hintergründe und massiven ökologischen wie ökonomischen Folgen des periodisch auftretenden El Niño-Phänomens. Bei Bahia Inglesa, das bei einer Fahrt über die Flussoasen von Vallenar und Copiapó erreicht wurde, bot sich schließlich die Möglichkeit zu einem kühlen Bad im Humboldt-Strom.
Durch verschiedene Flussoasen kam man schließlich in die Kernwüste des Großen Nordens. Von Antofagasta (etwa 400.000 Einw.) aus fuhr man entlang der alten Kupferbahn, über die der für das chilenische Nationalprodukt wichtigste Rohstoff vom Altiplano zum Meer seit dem 19. Jahrhundert transportiert wird, ins Landesinnere, vorbei an der größten im Tagebau arbeitenden Kupfermine der Welt, Chuquicamata. Hier drehten sich die Gespräche intensiv um Abbau, Verarbeitung und Export des Kupfers. 2010 wies Chile immerhin ein Drittel der globalen Kupferbergwerksproduktion auf. Über die Hälfte sämtlicher chilenischer Exporte entfällt auf Kupfer, das mit 10% zur Wirtschaftsleistung des Landes beiträgt. Die wichtigsten Ausfuhrländer für chilenische Erzeugnisse insgesamt waren im Jahr 2016 die VR China (29%), die USA (14%) und Japan (9%). Von Calama aus ging es zur Oase San Pedro de Atacama auf 2.500 m Höhe. San Pedro, ursprünglich ein kleines, staubiges Nest, hat sich zu einem Touristenzentrum mit viel Rummel entwickelt. Der Ort ist Ausgangspunkt für Fahrten zu einer der größten Touristenattraktionen Chiles, dem Geysir- und Fumarolenfeld El Tatio auf 4.300 m Höhe, das seinesgleichen in Südamerika sucht.
Von San Pedro aus ließen sich weitere Sehenswürdigkeiten erschließen: die Oase Chiu-Chiu mit ihrer kolonialen Kirche, die präkoloniale Inkaburg Pukará de Lasana, die am besten erhaltene in ganz Chile, sowie auf der Weiterfahrt durch die Salpeterpampa (Salzwüste) die inzwischen aufgelassenen Salpeter-Camps Humberstone und Santa Laura. Diese historischen Salpeteroficinas sind Zeugen einer groß angelegten Förderung seit dem 19. Jahrhundert mit weltweiter Verbreitung des Produkts, das als Düngemittel und als Grundstoff für Schießpulver verwandt wurde. Im Salar de Atacama, einem unterirdischen Salzsee, wurden wir auf Chiles neue Exportchancen aufmerksam gemacht: Das überaus seltene Lithium lagert hier – wohl 40% der Weltreserven. Auf der Weiterfahrt zur Oase Pica bei der stürmisch wachsenden Stadt Iquique (2016: 195.000 Einw.) wurde ausführlich über die verschiedenen Oasentypen der Alten und der Neuen Welt diskutiert und über die wirtschaftliche Nutzung der dort angebauten Früchte informiert, einschließlich der „Verkostung“ von leckerem Mangosaft bzw. Mangoeis. In Iquique selbst wurden wir Zeugen eines kleineren Erdbebens, wie es entlang der südamerikanischen Westküste nicht selten vorkommt. Ins kollektive Gedächtnis der Chilenen eingebrannt ist der Tsunami von 1960, der vor allem im Kleinen Süden Chiles dramatische Verwüstungen anrichtete und im gesamten Pazifikraum mehr als 1600 Menschen das Leben kostete. In Valdivia, der in Pazifiknähe gelegenen Hauptstadt der Provinz de los Rios, ragte noch vor wenigen Jahren das Wrack eines damals gesunkenen Schiffes aus dem Wasser des Rio Valdivia.
Durch die Wüste Atacama, über Hochebenen und Cañons ging es bis an die Nordgrenze Chiles zu Peru nach Arica mit Informationen über den zwischen beiden Staaten und Bolivien im 19. Jahrhundert geführten Salpeterkrieg (1879-1883), durch den der größere Teil des heutigen chilenischen Nordens an Chile kam und Bolivien im Friedensvertrag von 1904 die Provinz Antofagasta und damit seinen Zugang zum Meer verlor. Zwar baute Chile im Gegenzug eine Eisenbahnstrecke vom Pazifikhafen Arica bis La Paz, der Hauptstadt Boliviens. Doch die Verschiffung von rund 70% ihrer Waren über den chilenischen Hafen stellt für die Bolivianer keinen befriedigenden Ersatz dar. Bis heute gedenken sie, Bewohner eines Binnenstaates, an jedem 23. März mit dem „Día del Mar“ an den Verlust des Departamento Litoral und erinnern an den ungelösten Konflikt mit Chile und die nach wie vor bestehende Forderung nach einem hoheitlichen Zugang zum Pazifik. Rund 2000 Marinesoldaten zeigen dann auf dem Titicacasee und den großen Flüssen ihre Präsenz. Der bolivianische Präsident Evo Morales reichte 2013 beim Internationalen Gerichtshof Klage gegen die 1904 im Friedensvertrag festgelegte Grenzziehung ein. Begründung: die Unterzeichnung sei unter Androhung eines Angriffs erzwungen worden. 2015 ließ der Internationale Gerichtshof die Klage auch zu, erklärte aber 2018, dass Chile mit Bolivien nicht über Zugangsrechte verhandeln muss. Wie tief der Konflikt zwischen den beiden Nachbarländern ist, lässt sich daran erkennen, dass sie seit mehr als 40 Jahren keine diplomatischen Beziehungen unterhalten. In San Miguel de Azapa, einem Vorort von Arica, wartete eine besondere archäologische Attraktion auf uns. Bei Ausgrabungen waren an die 300 Mumien des hier ansässigen Chinchorro-Volkes aus verschiedenen Zeitphasen gefunden worden, von denen mehrere Dutzend Mumien von Männern, Frauen und Kindern einschließlich Waffen und Alltagsgegenständen sorgfältig in dem von der Universidad de Tarapacá dafür eigens errichteten Arqueológico ausgestellt worden sind. Erstaunlich ist ihr Alter, das offensichtlich das Alter aller bislang bekannten Mumien weltweit (einschließlich der ägyptischen) übertrifft: 7.000 Jahre – uns Europäern bislang völlig unbekannt. Die älteste Besiedlung auf chilenischem Boden datieren Wissenschaftler auf das 10. Jhd. v. Chr.
Der nächste, überaus anstrengende Tag führte von Arica (rd. 230.000 Einw.), also Meereshöhe, über die verschiedenen Höhenstufen mit je spezifischen Vegetationsformen hinauf an den Rand des Altiplano mit Lama- und Alpakaweiden in den Nationalpark Lauca mit dem Vulkan Parinacota (6.330 m) und dem Lago Chungará, insgesamt auf 4.600 m Höhe – fast so hoch wie der Mont Blanc – und zurück zur Küste. Den mit der „dünnen Luft“ verbundenen Unpässlichkeiten wie Schwindel und Kopfschmerzen versuchten wir, wie die Einheimischen, mit dem Kauen von Coca-Blättern oder entsprechendem Tee zu begegnen – was allerdings nur mäßig gelang. Unsere beiden Busfahrer klagten, Gott sei es vor allem angesichts der extremen Serpentinen gedankt, nicht über solcherlei Beschwerden. Von Pedro und Carlos erfuhren wir auch mehr über die derzeitigen sozialen Bedingungen des Landes. So beträgt die Arbeitswoche 6 Tage, lediglich der Sonntag ist frei. Das Codigo del trabajo de Chile (Arbeitsrecht) legt fest, dass Arbeitnehmer, die länger als ein Jahr bei einem Arbeitgeber beschäftigt sind, Anspruch auf 15 bezahlte Urlaubstage haben. Der Mindestlohn wurde 2018 auf 276.000 Pesos (ca. 355,-€) für Arbeitnehmer über 18 und unter 65 Jahren festgelegt. Für Arbeitnehmer über 65 und unter 18 Jahren beträgt der Mindestlohn seither 206.041 Pesos (265,- €). Das durchschnittliche Jahreseinkommen beläuft sich auf etwa 12.000 €. Carlos erzählte uns, dass das Durchschnittsgehalt eines Busfahrers, verheiratet, ein Kind, so eben für den täglichen Bedarf reicht. Doch wenn seine Tochter beispielsweise studieren wollte, wäre das Einkommen nicht mehr ausreichend. Mit dem während der Pinochet-Diktatur eingeführten Neoliberalismus wurde auch das Bildungssystem weitgehend privatisiert. Der Zugang zu (guten) Schulen und Universitäten ist damit letztlich eine Frage des Geldes. BAFÖG gibt es nicht, nur Leistungsstipendien. Aber hier entfallen auf etwa ein Stipendium 1000 Bewerbungen. Die monatlichen Studiengebühren können bis 5.000 € betragen, so dass sich viele Familien für das Studium ihre Kinder verschulden. Daher demonstrierten chilenische Studierende mehrere Jahre für die Senkung bzw. Abschaffung von Studiengebühren. Im Februar 2018 stimmte der Kongress dann mit 102 Ja-Stimmen und zwei Enthaltungen einem Gesetzesentwurf der damals amtierenden sozialistischen Präsidentin Michel Bachelet zu, der für 60 Prozent der chilenischen Haushalte mit niedrigen Einkommen eine Fach- oder Hochschulbildung garantiert. Unter dem seit 2018 regierenden, konservativen Präsidenten Sebastián Piñera könnte das Rad nun aber wieder zurück gedreht werden. Die Privatisierung gilt auch für das Gesundheitswesen und den Zugang zu Ärzten und Krankenhäusern sowie für das Rentensystem. Pedro ist bereits über 65 Jahre alt und bezieht staatliche Altersversorgung. Da sie jedoch nicht ausreicht, muss er mit Fahrten wie der unsrigen Geld dazu verdienen. Die durchschnittlichen Bezüge für Rentner betragen etwa 38% des früheren Einkommens, bei Frau 28%. Das frühere staatliche Rentensystem war um 1980, während der Pinochet-Diktatur, im Zuge des einsetzenden Neoliberalismus privatisiert worden. Mittlerweile wird es von sechs privaten Unternehmen verwaltet, die dem Kapitaldeckungsverfahren folgen und die Gelder international anlegen. Die Arbeitnehmer müssen monatlich 13 % ihres Einkommens in einen Fond einzahlen, davon entfallen allein 3% auf die Verwaltung. Seit dem Sommer 2016 gingen rund 750.000 Menschen in 40 Städten Chiles auf die Straßen, um gegen dieses System zu protestieren, wobei es auch zu gewalttätigen Ausschreitungen. Von Arica flogen wir einen Tag später mit dem Flugzeug zurück nach Santiago, um dort auf dem Weg von unserem Bus zum Hotel mitten hinein in eine Demonstration von Mapuche zu gelangen, die lautstark die Cultrun, ihr traditionelles Percussionsinstrument, schlugen. Unmittelbar vor dem Ministerium für soziale Angelegenheiten forderten sie für sich bessere Wohnverhältnisse. Mit 82% bilden die Mapuche die größte Gruppe der indigenen Bevölkerung Chiles, neben den Aimará (6%) und den Diaguita (2%). Bei der Volkszählung im Jahr 2002 bekannten sich insgesamt 11% der Einwohner Chiles zu ihrer indigenen Herkunft. Den Abschluss der Reise bildete am kommenden Tag der Flug von Santiago über Madrid nach Frankfurt am Main – eine faszinierende Reise.
Bericht von Dowe